Novemberrevolution

Zweimal in ihrer Geschichte wurde die beschauliche Kleinstadt Nienburg an der Weser, die sonst nur für ihren Sand und ihren hervorragenden Spargel berühmt ist, von revolutionären Ereignissen heimgesucht.

„Das eine Mal als große Tragödie“ durch den Großen Glasarbeiterstreik von März bis September 1901, als 4000 Flaschenmacher in den Ausstand traten und ihre Auseinandersetzung um Löhne, Arbeitszeiten und die Wiedereinstellung entlassener Glasmacher trotz finanzieller Unterstützung aus halb Europa verloren. Weil Streikbrecher aus Karelien eingesetzt wurden, drang die Kunde sogar bis zu Lenin und der fand diesen Streik eine Analyse in seiner ein Jahr später erschienenen Schrift „Was tun?“ wert.

„Das andere Mal als lumpige Farce“, als in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 Matrosen aus Bremen an der Mittelweser eintrafen, sich sofort mit den dortigen revolutionären Soldaten und Arbeitern berieten und zunächst einen provisorischen Soldatenrat einsetzten.

Im weiteren Verlaufe des Vormittags schlossen sich auf dem hiesigen Rathause Verhandlungen an, die zur Hissung einer roten Fahne auf dem Rathause führten.

Um 8 Uhr morgens marschierten dann Soldaten und Arbeiter der beiden Nienburger Glashütten los, besetzten nacheinander das Garnisonskommando, das Bezirkskommando, das Postamt und den Bahnhof, ohne einen einzigen Schuß abgeben oder sonstwie gewalttätig werden zu müssen, und rückten schließlich auf das Rathaus vor. Dort erwartete nach Berichten von Zeitzeugen Bürgermeister Stahn die Meute schon mit schlotternden Knien und fürchtete um sein Leben, zumindest um seine Freiheit, aber eine Delegation forderte ihn nur auf, weiter im Amt zu bleiben und die Stadtverwaltung zu führen und bat um Erlaubnis, die oben erwähnte rote Fahne auf dem Rathausdach zu hissen.

Derweil hatten die Nienburger Sozialdemokraten in aller Eile einen Aufruf gedruckt und überall plakatieren lassen, in dem sie zu Ruhe und Ordnung aufriefen.

… aber hütet Euch vor Zersplitterung, vor Arbeiter-Bruderkrieg und vor Ratschlägen unverantwortlicher Elemente, die Euch zu unbesonnenem Losschlagen gegen Euer eigenes Interesse verleiten wollen. Folgt nicht den Parolen kleiner Gruppen und unbekannter Drahtzieher … Der unterzeichnete Vorstand legt der Bevölkerung Nienburgs, insbesondere der gesamten Arbeiterschaft dringend ans Herz, in Zukunft im Interesse der öffentlichen Sicherheit den obigen Aufruf zu beherzigen und vor allen Dingen Ruhe und Ordnung zu bewahren.

Die Revolutionäre, die gerade im Rathaus alles beim Alten belassen hatten, marschierten weiter zum Gasplatz, wo um 11 Uhr eine Versammlung zur Gründung eines Arbeiter- und Soldatenrats stattfand. Der provisorische Soldatenrat rief noch „zur unbedingten Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ auf, die Versammlung beschloß, auch „Frauen vom 21. Lebensjahre an“ das Wahlrecht zu gewähren, „die Lebensmittelversorgung unserer Stadt“ solle in Zukunft „unter Hinzuziehung je eines Mitgliedes des Soldaten- und Arbeiterrates stattfinden“, dann zog man nach nebenan ins „Deutsche Haus“ und wählte.

Die neue miltärische Ordnungsmacht in Nienburg

… überschrieb am Montag „Die Harke“ Nr. 265 vom 11. November 1918 die Bekanntgabe der gewählten 12 Arbeiter- und 12 Soldatenräte. Der Schluß der auch per Flugblatt verbreiteten ersten amtlichen Verlautbarung des Gremiums „Garnisonsältester bleibt Oberleutnat Hogrewe, Vertreter der Stadtverwaltung Bürgermeister Stahn“ zeigt die wilde Entschlossenheit, mit der man sich selbst kastrierte und auf keinen Fall auch nur ein Fitzelchen tatsächlicher Macht an sich reißen wollte.

Die Groß- und Kleinbürger, die sich an diesem Revolutionswochenende in ihren Häusern versteckt hatten, trauten sich bald wieder auf die Straße und nahmen den Sozialdemokraten die Meinungsführerschaft in der Lokalpresse schnell wieder aus der Hand. Der Arbeiter- und Soldatenrat meldete sich nur noch zu Wort, wenn er Geheimschlachtungen auf der Spur war, die fleischlosen Wochen vom 18. bis 24. November, 16. bis 22. Dezember und 6. bis 12. Januar überwachte oder Reis an Bedürftige verteilte, bis er sich nach wenigen Monaten unauffällig in Luft auflöste.

Alle schienen zufrieden zu sein, als wieder Ruhe eingekehrt war. Alle? Nein, einer nicht, der Holtorfer Volksschullehrer Jörns, der über den Verlauf der Revolution in Nienburg so enttäuscht war, daß er alles hinwarf und sich mit den Matrosen nach Wilhelmshaven aufmachte, um dort beim Soldatenrat mitzumischen. Wenige Tage nach der Ausrufung der Räterepublik versuchte er am 14. Januar 1919 auf der Seite der Marinesoldaten die AG Weser zu besetzen, wobei es zu Schießereien zwischen den Soldaten und kommunistischen Arbeitern mit mehreren Toten und Verletzten kam.

Am 4. Februar wurde die Räterepublik niedergeschlagen, der „berüchtigte Lehrer Jörn“ (Die Harke am 14. März 1919) wurde für seine Wilhelmshavener Aktivitäten zu sieben Jahren Festungshaft wegen Hochverrats und für seine Beteiligung an der Schießerei auf der Werft zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.

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