Die glücklichsten Jahre der Menschheit

An einem Montag im Sommer 1971 nachmittags um 14:30 Uhr. Heeresfliegerwaffenschule. Jägerkaserne Bückeburg. Behandlungszimmer III des Sanitätsbereichs. Vor mir schwitzte ein Major vom Flugpatz Achum unter dem Lichtbogen, mir juckte die Kopfhaut unter dem Haarnetz, unter das ich meine Mähne bis auf den letzten Spliß ordnungsgemäß verstaut hatte. Aus dem Philips-Kassettenrekorder auf der Fensterbank tönte Hannes Waders Tankerkönig.

Die Dienstgrade vom Feldwebel aufwärts zu quälen und zu terrorisieren, wenn sie uns hilflos ausgeliefert waren, das sollte unser Beitrag zum Kampf gegen den Miltarismus sein. Das hatten wir beschlossen. Wir – eine Sechserbande – waren uns gegenseitig auf die Schliche gekommen war, als wir während der öden Nachtdienste um die Medikamentenschränke herumschlichen: auf der Suche nach brauchbaren Drogen. In den Schränken fanden wir nichts, darum legten wir zusammen und kauften von Chemieschülerinnen, die eine eigene Fabrikation aufgezogen hatten, nahmen das Zeug teils in der Kaserne, teils fuhren wir nach Minden ins Studio M oder nach Münchehagen ins Kanbach. Manchmal schauten wir uns auch in der Birke Filme wie Geißendörfers „Jonathan“ an oder drehten Verfolgungsjagden über die Treppen der Mindener Altstadt.

Was uns einte, war die Entschlossenheit, ganz und gar unsoldatisch daherzukommen und uns so weit wie möglich von den biertrinkenden rüpligen Kameraden zu unterscheiden, die den Fernseher aus dem dritten Stock warfen, wenn wir uns Filme von Werner Schroeter anschauen wollten.

Jede Gelegenheit, den Dienstbetrieb zu stören, kam uns recht. Wir brachten Kaliumpermanganat und Rubriment-Essenz in kleinen geschlossen Flaschen miteinander in Kontakt, warfen sie schnell aus dem Fenster und freuten uns, wenn die Explosionen die Wachen aufscheuchten und hektisch nach der Ursache suche ließen. „Geworfen Bombe über Zaun. Explodieren eine Stunde.“ Nach diesem nächtlichen Anruf mitten in schönsten RAF-Jagd-Zeiten wurde der halbe San-Bereich evakuiert, überwacht vom Kommandeur persönlich im Schlafanzug mit Schäferhund.

Normalerweise beließen wir es aber bei den kleinen Gemeinheiten gegenüber den höheren Dienstgraden. Manchmal gossen wir ihnen großzügig Kodan in ihre offenen Blasen, um ihnen zu zeigen, wie wir auch den härtesten deutschen Mann zum Weinen bringen, ließen sie bei der Blutentnahme absichtlich umkippen oder rieben sie vor der Lichtbogenbehandlung mit Rubriment-Essenz ein. Meist ärgerten wir sie nur mit der Musik, die sie nicht, wir aber mochten und stellten uns beim Wunsch nach Ruhe taub.

Dem Major unter dem Lichtbogen schien der Tankerkönig sogar zu gefallen. Er begann, mir ein Gespräch aufzuwingen. Ich habe doch Abitur und könne Offizier werden wie er. Meine Haltung zur Bundeswehr spiele keine Rolle. „Wir haben kalten Krieg, der wird niemals heiß.“ Und wenn doch, dann fielen sofort Atombomben, und wir alle, egal, ob Major, Hippie oder Fürst Philipp Ernst, seien „verdampft, noch vor dem ersten Alarm“. Keine Gefahr, je in einen Krieg ziehen zu müssen, dafür ein bequemes Leben. „Besser geht’s nicht.“ Ich solle nur ihn anschauen. Er habe die Kleiderkammer auf dem Flugplatz unter sich, die Arbeit machten die Untergebenen, er mache sich einen Lenz und „organisiere“ nur hin und wieder etwas.

Tatsächlich goldene Zeiten damals, als ein faules Soldatenleben denkbar, ein Krieg dagegen undenkbar war, und man sich hüben demütig „dem Amerikaner“ und drüben „dem Russen“ unterwarf. Dem Ratschlag des Majors bin ich trotzdem nicht gefolgt.

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