Berlin!! Berlin!!! Berlin!

Ostern 1963

Das erste Mal in meinem Leben kam ich Karfreitag 1963 nach Berlin, mit einer kirchlichen Jugendgruppe, in einem Reisebus der Firma Bohm aus Uchte. Wir übernachteten in einem Evangelischen Studentenwohnheim: die Villa Axel Cäsar Springers in der Bernadottestraße in Sichtweite; das wurde vom Reiseleiter noch mit Stolz verkündet, daß uns großes Glück zuteilwerde, in einem so schönen, gerade neu erbauten Wohnheim in derart prominenter Nachbarschaft beherbergt zu werden, ja, damals glänzte der Name Springer noch, die Frontstadt fühlte sich geehrt, daß er hier seine Zelte aufgeschlagen hatte.

Von den vielen witzig gemeinten Spitznamen für die Gebäude, an denen wir während der Stadtrundfahrt vorbeifuhren, ist kein einziger hängengeblieben, allein an das Aschinger kann ich mich noch erinnern, wo man gleichermaßen billig wie gut essen könne, wenn man knapp bei Kasse sei, “und wer ist das nicht, hahaha”, vor allem die Erbsensuppe mit Bierwürsten sei weltweit berühmt. Gegessen haben wir dort dann doch nicht, stattdessen das erste und das letzte Mal in meinem Leben in einem Wienerwald. Um mich in diesem Augenblick als Mann von Welt zu fühlen, fehlte mir nur noch das Pepitahütchen.

Die Mauer stand auch auf dem Programm. Eine Treppe hoch auf eine Aussichtsplattform, ein doch eher langweiliger Ausblick, ich habe dann noch meine Fäuste geballt und “Ihr Schweine!” geknurrt, das, weil der Zwillingsbruder meines Vaters, Major bei den Grenztruppen, kurz zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Der Kettenraucher, 80 Stück am Tag, soll nachts im Schlaf aufgeschreckt sein, “Alarm! Alarm!” gerufen, unters Kopfkissen gegriffen und sich mit seiner Dienstwaffe “aus Versehen” in den Kopf geschossen haben. Mein Cousin hat später bei der Staatssicherheit angeheuert, um in irgendwelchen geheimen Unterlagen die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden, die Wende ist ihm dann aber nicht nur in dieser Angelegenheit dazwischengekommen.

Der eigentliche Zweck der Reise aber und der Grund, aus dem mir als noch nicht einmal 14-jährigen erlaubt wurde, an der Fahrt teilzunehmen, war ein Suchauftrag, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte. Im Krieg hatte es sie von Wolhynien über den Warthegau in die Tschechei verschlagen, wo sie meinen Vater kennengelernt, aber für Jahre wieder aus den Augen verloren hat, von dort nach Seifhennersdorf und gleich nach dem Kriegsende dann nach Berlin.

Hier war meine Mutter als Dienstmädchen bei einem jüdischen Ehepaar angestellt, das sich in den Kriegsjahren erfolgreich versteckt und sein altes Kaufhaus wieder übernommen hatte. Tagsüber hielt sie den beiden den Haushalt in Ordnung, abends und nachts, vor allem, war sie als Botin für Schwarzmarktgeschäfte unterwegs: Schokolade, Nylons, Zigaretten, Dollarbündel, stets in einer schäbigen Aktentasche verstaut, die sie in der Straßenbahn in Reichweite, aber unauffälliger Entfernung ablegen sollte, nicht etwa ängstlich behüten, damit niemand auf die Idee käme, es befinde sich etwas Wertvolles darin. Hauptumschlagplatz war die Femina-Bar, Paul Kuhn saß damals dort am Klavier.

Ich sollte nun nachsehen, ob es das Kaufhaus noch gebe, und eventuell dem Ehepaar die Grüße meiner Mutter übermitteln. Der vorletzte Tag stand zu unserer freien Verfügung, ich hatte Zeit für den Auftrag und setzte mich in die Linie, die mir meine Mutter auf einen Zettel geschrieben hatte. Es war tatsächlich immer noch die richtige Bahn, der freundliche Mann, bei dem ich mich erkundigte, an welcher Station ich aussteigen müsse, kannte sogar das Kaufhaus noch, es sei jetzt aber ein anderes Geschäft in den Räumen, wo die alten Besitzer zu finden seien, wisse er nicht.

Auch gut, ändere ich halt meinen Plan, dachte ich, und beschloß, Ostberlin zu besuchen. Ich hatte gehört, an der U-Bahn-Station Friedrichstraße gebe es eine Grenzübergangsstelle. Da stand ich nun einsam und verloren auf diesem Bahnsteig und sprach einen Uniformierten an, der aussah wie ein Grenzer: “Ich komme aus der Bee Err Dee”, so langsam, gedehnt und deutlich wie möglich, um meine freundliche Gesinnung, wenn nicht Sympathie zum Ausdruck zu bringen, “und möchte die DDR besuchen”, bis 1989 sagte ich aus Prinzip nur “DDR”, seit Oktober 1990 sage ich bis heute, ebenso aus Prinzip, nur noch “Ostzone”. Das sei an dieser Stelle doch möglich, setzte ich eher zaghaft nach. Der Uniformträger wies mich barsch ab, ich mußte mit der nächsten Bahn zurück.

So habe ich bis heute weder bei Aschinger gegessen noch dieses Kaufhaus oder seine Besitzer gefunden noch auch nur einen Fuß in einen Bezirk jenseits der Mauer gesetzt.

 

Jahrhundertwinter 1978/79

Kurz vor Weihnachten ereilte uns der Hilferuf der Berliner Genossen. Sie wollten unbedingt zur Wahl zum Abgeordnetenhaus im März in allen Bezirken mit einer Liste kandidieren und brauchten dazu Unterschriften, Unterschriften, Unterschriften. Wir fuhren mit drei Wagen los in die härtesten Wochen meines Lebens.

Es begann aber warm und gemütlich. Joachim lotste uns gleich nach dem Grenzübergang Wartha-Herleshausen in eine Gaststätte, in der wir uns für wenige Mark an Wildschweinbraten, Thüringer Klößen und Rotkraut satt aßen. In Berlin hingegen wurden wir, noch ehe wir Quartier nehmen konnten, nach Steglitz dirigiert, einen Stand aufbauen und die Passanten um Unterschriften anhauen. Bei minus 20° C im Freien. Niemand von uns hatte an langes Unterzeug gedacht und wir froren erbärmlich. Zum Glück gab es auf der anderen Seite des Platzes ein kleines Textilgeschäft, da marschierten wir nacheinander hinein, Natascha, die amerikanische Genossin von den Landwirten, als Avantgarde voran, kauften uns lange Unterhosen und zogen sie unter dem Grinsen des Personals auch gleich dort an.

Untergebracht waren wir bei Genossen mitten in Kreuzberg nahe der Oranienstraße. Allerdings sahen wir von Kreuzberg in diesen beiden Wochen fast nichts, schliefen nur dort und gingen jeden zweiten Abend irgendwo etwas essen. “Wenn das Gyros zehn Mark kostet, ist der Laden in Ordnung”, lautete der Ratschlag für die Restaurantauswahl und für das Überleben im Großstadtdschungel.

Ansonsten sammelten wir von morgens bis abends Unterschriften, durchkämmten die Bezirke systematisch, kämpften uns von Tür zu Tür, manche Gebiete nahmen wir uns auch ein zweites Mal vor, wenn die Unterschriften nicht reichen wollten. Meist bissen wir auf Granit, kaum einmal hatte ich es so leicht wie bei der zierlichen Frau Ende zwanzig mit dem engelhaften Gesicht, die mich freundlich lächelnd in ihre Wohnung bat, als sei ich erwarteter und lieber Besuch, mir sofort eine Unterschrift gab, ich mußte nichts erklären, und sogar eine KVZ abkaufte … erst viel später ist mir aufgegangen, daß Unterschrift und Kauf vielleicht gar nicht politisch motiviert waren.

Irgendwo in Neukölln. An der Tür ein Mann Anfang dreißig, der ein Feinripp-Unterhemd über der altmodischen braunen Cordhose trug. Im Wohnzimmer auf der Couch ein gleichaltriger, gleich angezogener Mann. Auf dem Tisch zwei Flaschen Bier, geöffnet, vielleicht zweieinhalb Schlucke weggetrunken, zwei Untertassen mit Napfkuchen. Sie saßen nebeneinander wie ein altes Ehepaar, sie boten mir den Sessel gegenüber an und Kuchen, kein Bier. Ich lehnte ab. Hinter mir lief der Fernseher.

Sie ließen mich reden. Höflich. Zurückhaltend. Keine Fragen. Dann aus dem Nichts: “Wir sehen, daß Sie ein Mensch guten Willens sind.” Das dicke Buch auf dem Couchtisch entpuppte sich als Bibel. Ich wollte ihre Unterschriften, sie wollten meine Seele retten und mir den Wachturm verkaufen. Eine Stunde redeten wir aneinander vorbei. Dann verließ ich die beiden. Im Fernseher lief gerade David Copperfield.

Irgendwo in Schöneberg. Im zweiten Stock klingelte ich zuerst rechts. Die Frau war freundlich, wollte aber nicht unterschreiben, warnte mich noch davor, es an der mittleren Wohnung zu versuchen: “Der Mensch is gefährlich. Bleiben Se lieber da weg.” Ich klingelte trotzdem. Ein Mann Ende dreißig, nur mit einer Leopardenunterhose und einem Leopardenumhang bekleidet, grinste über das ganze Gesicht: “Warten Sie bitte einen Moment.” Die Frau rechts flehte: “Nun haun Se schon ab!” Ich wußte nicht, warum. Als er dann in der Tür stand, mit dem Krummschwert in der Rechten die Luft schnitt, mit der Peitsche in der Linken knallte und dabei laut und dreckig lachte, wußte ich es. Ich machte auf der Stelle kehrt, so schnell, mit zwei Sätzen die halbe Treppe, mit acht Sätzen bis zur Haustür unten, war ich vorher nie und später auch nicht mehr.

Heiligabend begingen wir auf unsere Weise. Eine Kundgebung wurde angemeldet, wir traten in halb militärischer, halb religiös-ritueller Formation im Dreiviertelkreis an und brüllten gegen die bürgerliche Weihnachtsduselig- & -seligkeit alte Arbeiterlieder in die stille Nacht hinaus.

Bis in den späten Nachmittag hatten wir noch Hochhäuser im Märkischen Viertel nach Unterschriften abgeklappert. Die meisten Türen blieben verschlossen, eine wurde aber geöffnet, weil die beiden Kinder, fünf und sechs Jahre alt vielleicht, in mir den Weihnachtsmann vermuteten. Die Frau wollte unterschreiben, “ist doch Weihnachten”, der Mann tippte sich mehrmals heftig an die Stirn und beschimpfte sie feucht, sie zeterten noch, als ich, erschrocken über das, was ich angerichtet hatte, durchs Treppenhaus davoneilte.

Daran mußte ich denken, als wir unsere Kampflieder grölten und warmes Licht hinter den Fensterscheiben von einer Geborgenheit kündete, die wir durch unseren Kampf nie erreichen könnten. Ein wenig schämte ich mich auch.

Im Gegensatz zur Alternativen Liste bekamen wir übrigens in allen Bezirken die notwendigen Unterschriften zusammen, für diese Unfähigkeit belächelten wir sie ein wenig. Bei den Wahlen war es dann mehr als umgekehrt: Die Alternative Liste kam auf Anhieb auf 3,7 %, wir mußten uns mit spärlichen 0,1 % begnügen, 1367 Stimmen, weitaus weniger als mitleidige Unterschriften.

 

Pfingsten 1984

Ich hatte gerade in diesem Projekt “Erinnerungsprotokolle” für das Stadtarchiv angefangen. Deshalb lud mich Fritz zu einer Tagung der Geschichtswerkstätten ein. Wir fuhren zu dritt und wohnten diesmal in Charlottenburg bei Freunden von Fritz in einer Wohnung mit schönen hohen Decken und Parkettboden. Wir mußten uns vorher verpflichten, nichts, “aber auch wirklich nichts”, zu deren beruflicher Tätigkeit zu sagen: Veterinärmediziner, die in den Laboren von Bayer Tierversuche durchführten. Er wolle die Freundschaft nicht durch unser unqualifiziertes Gerede aufs Spiel setzen.

Was auf dieser Tagung überhaupt besprochen wurde, ist meinem Gedächtnis vollständig entglitten, zwei Erinnerungsfetzen nur, Randglossen dieses Aufenthalts: einmal das Kaffeetrinken mit Fritz’ Schwester, die in einem streng geschnittenen dunkel- und hellbraun karierten Kostüm erschien, welcher Gegensatz zum nachlässig alternativen Auftritt des Bruder, in einem Café am Kurfürstendamm in der Nähe der Gedächtniskirche; dann der 15-, 16-jährige Punk, eher adrett als Punk, in Charlottenburg beim Sonntagsspaziergang an der Hand der Frau Mama.

Wichtig war diese Tagung für mich nur, weil sie mir eine Einladung einbrachte für eine viel ertragreichere Veranstaltung der Barfußhistoriker und Spurensucher, nämlich der Friedrich-Ebert-Stiftung in Saarbrücken, zu der ich dann mit dem Zug fuhr und mich auf der Fahrt fast nicht mehr einkriegen konnte vor Vergnügen über Henscheids “Negerl”, als Dreingabe noch der schöne Abend, an dem ich, leicht angetrunken, zugegeben, eine Handvoll ironieunfähiger Sozialdemokraten, zwei Stunden nach Herzenslust hochnahm.

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