Ein Nachhilfelehrer

It’s gonna be a thrilla
and a chilla
when I get the gorilla
in Manila.

„Laß uns die Abkürzung nehmen.“ Wir kamen vom Studentenwohnheim im Albrecht-Thaer-Weg, wo meine Freundin Sabine damals in einer WG mit zwei Waldorfschülern aus Worpswede lebte, und wollten hinüber zum Klausberg, Clemens und ich, zu seinem ehemaligen Griechisch-Nachhilfelehrer, bei dem könnten wir uns nicht nur die nächtliche Fernsehübertragung des „Thrilla in Manila“ zwischen Ali und Frazier anschauen, wir bekämen dort auch zu trinken, was unser Herz begehrt, und mehr als wir vertrügen. „Wenn wir ihn noch länger warten lassen, geht er vielleicht schon ins Bett.“ So kletterten wir die Böschung am Nikolausberger Weg hoch, dort, wo er sich zu einer für den eiligen Autofahrer gefährlichen hohlen Gasse verengt, unheimlich dunkel zu dieser nachtschlafenen Zeit.

HT, Mitte dreißig damals, ewiger Student der Altphilologie, der sich immer noch einschrieb, um an den Studentenausweis und die Vergünstigungen zu kommen, seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Nachhilfeunterricht in Latein und Griechisch, hauptsächlich für die Schüler des altsprachlichen Max-Planck-Gymnasiums. „Setzt euch.“ Wie ein Blick auf die Inneneinrichtung zeigte, ging es ihm dabei nicht schlecht.

„Was wollt ihr trinken?“ Er öffnete die Schrankwand in meinem Rücken. „Ich habe alles da.“ Das war nicht gelogen. Auf drei Meter Breite stand in vier Etagen, was das Herz des harten Trinkers begehrt: Whisky, Cognac, Rum, Obst- und andere Brände und Schnäpse neben edlen Likören und Magenbittern, immer Dutzende von Marken und Sorten. Verwirrt und erschlagen von der Vielfalt fiel mir nichts anderes ein als Chivas Regal, den kannte ich aus dem Scandia Club, mit Apfelkorn mochte ich ihm nicht kommen, von den Single Malts, auf die er als Alternative hinwies, „wenn es denn ein Whisky sein soll“, hatte ich keine Ahnung, ich blieb dabei. Während ich mir eine Drum drehte, stellte mir HT die ganze Flasche und ein Glas auf den Tisch, für sich einen Cognac, Clemens kannte sich aus und holte sich ein Urquell aus dem Kühlschrank.

Nach dem ersten Glas und der ersten Zigarette wurde der Fernseher angestellt. Am Anfang war Ali noch schnell auf den Beinen, beherrschte den Kampf: wir tranken und rauchten locker in der Hoffnung auf ein vorzeitiges Ende. Dann hing er fast nur noch in den Seilen, kassierte Treffer um Treffer: wir tranken und rauchten angespannt, weil wir Schlimmes befürchteten. Der Kampf steigerte sich zur Schlacht: wir tranken und rauchten aus Mitleid mit beiden Boxern. In der 13. und 14. Runde wurde es fürchterlich für Frazier, Ali traf ihn wieder und wieder am Kopf, Frazier wankte, aber fiel nicht: wir vergaßen zu trinken und zu rauchen.

In der 15. Runde trat Frazier nicht mehr an. Die Flasche Chivas Regal war noch halb voll, aber ich hatte schon genug und schwankte. Clemens verabschiedete sich in eine andere Richtung und ich mußte den Rückweg in der Dunkelheit allein finden. Als ich oben am Hohlweg ankam, lief ich in einige Büsche hinein, Gesichts- und Körpertreffer, und im Gegensatz zu Frazier fiel ich und kullerte den Abhang hinunter. Betrunken, zerkratzt, zerschunden, verdreckt und mit unordentlicher Kleidung, als hätte ich selbst gekämpft und nicht nur ferngesehen, klingelte ich dann sehr viel später bei Sabine.

There will be no Pearl Harbour!
Muhammad Ali has returned!
There will be no Pearl Harbour!

Nach zwei weiteren Titelverteidigungen, die mich nicht interessierten, trat Ali dann Ende Juni 1976 für sechs Millionen Dollar in einem Schaukampf gegen den „Pelikan“ an, die japanische Wrestling-Legende, Catcher, wie wir damals sagten, Antonio Inoki, Weltmeister in fünf Kampfsportarten. Kenner, wie der Kickbox-Meister Georg F. Brückner oder der Judo-Olympiasieger Anton Geesink, befürchteten Lebensgefahr, sollten beide ernsthaft kämpfen: „Wenn der den Clay zu fassen kriegt, sehe ich schwarz und wenn Clay trifft, umgekehrt.“

Das wollten wir uns nicht entgehen lassen und machten uns noch einmal zu einer Fernsehnacht bei HT auf, diesmal zu viert, denn Ute und Sabine kamen mit, um auf Clemens und mich aufzupassen. Ich entschied mich für Armagnac, hielt mich aber sehr zurück, die beiden Aufpasserinnen für Persico, Clemens wieder für Urquell, der Gastgeber trank ziemlich viel ziemlich durcheinander.

Weil niemand der beiden ein Risiko eingehen wollte, war der Kampf nach nur für diese Begegnung ausgehandelten Regeln eine einzige Enttäuschung. Inoki lag die meiste Zeit auf dem Rücken und trat nach Alis Beinen, Ali umkreiste ihn mehr oder minder ratlos tänzelnd. Das war alles. Nach fünfzehn Runden wurde der Kampf unentschieden gewertet. Inoki lag zwar drei Punkte vorn, die wurden ihm aber aberkannt, da angeblich durch Foul errungen. Das Publikum zeterte Betrug und wollte sein Geld zurück.

Wir waren schon nach den ersten beiden Runden gelangweilt, sahen nicht mehr hin und interessierten uns nur noch füreinander. Sabine und ich saßen nebeneinander auf dem Sofa, nippten an unseren Getränken, rauchten, schauten uns hin und wieder amüsiert an, die drei gegenüber teilten sich einen Sessel. Ute saß bei Clemens auf dem Schoß, der langte mit der Rechten in ihren Ausschnitt, fummelte sich unter den BH, die beiden knutschten immer heftiger. HT hockte derweil den beiden zu Füßen, sah mit großen Augen hinauf, umklammerte Clemens‘ Bein, streichelte und küßte es, hing schließlich wie ein Hund an seinem Knie und begann, vor Begierde elektrisch zu zucken. Sabine und ich prosteten uns zu.

Clemens versuchte, HT abzuschütteln, doch das steigerte dessen Begehr noch und stachelte ihn zu noch wilderen Zuckungen an. Plötzlich war ihm übel, er hockte auf allen Vieren und versuchte, sich zu übergeben. „Der muß ins Bett, ehe es noch schlimmer wird“, entschied Clemens. Mit dem wäre HT freilich gerne mitgegangen, vielleicht auch mit mir, Sabine aber, die ihm auf- und erst ins Bad, dann ins Bett half, während Ute und Clemens sich weiter im Sessel vergnügten und ich die Szene wohlgefällig betrachtete, biß er dabei nur in den Finger.

Für den Rückweg nahmen wir in dieser Nacht nicht die Abkürzung durchs Gebüsch, sodaß der Zahnabdruck an Sabines Zeigefinger die einzige Blessur in dieser Nacht bleiben sollte.

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