Lichte Momente 3: Engel und Vampire

Gemeinsam gingen wir meist nur montags bis donnerstags auf die Reise, am Wochenende fuhren fast alle nach Hause, nach Unna, Bochum oder Gelsenkirchen, nur Gerd C. blieb oft in der Kaserne, seine Eltern waren geschieden, Geschwister hatte er nicht, seine halb-verrückte Mutter drehe zu oft durch, behauptete er, und er brauche vor allem seine Ruhe. Für mich war es unerheblich, ob ich am Mittwoch, am Freitag, am Sonnabend und am Sonntag den Weg nach Münchehagen ins Kanbach, meine zweite Heimat damals, von der Jägerkaserne (28 Kilometer) oder von Estorf (20 Kilometer) aus antrat. Deshalb verabredete ich oft mit Gerd eine bestimmte Uhrzeit, zu der wir räumlich getrennt, aber gleichzeitig einen Trip einwarfen.

Am letzten Oktoberwochenende, es müssen gerade Herbstferien gewesen sein, war es ausnahmsweise der Sonntag, weil Gerd seine Mutter besuchen und bis zum späten Nachmittag bleiben wollte. Beim Abendessen warf ich die Pille in einem unbeobachteten Augenblick ein und fuhr um acht Uhr los. Im Kanbach war es ziemlich leer, von Gerd war noch nichts zu sehen. Ich setzte mich zu den beiden Schwestern aus Brüninghorstedt und unterhielt mich eine Stunde oberflächlich mit ihnen, soweit es die Musik zuließ. Dann mußte es aus mir heraus. Ich brach den angefangenen Satz in der Mitte ab und grinste sie unvermittelt an: „Übrigens, ich bin voll drauf“, stand auf, stürmte die Tanzfläche, bewegte mich wild, schnell, heftig, ausdrucksstark, so kam es mir jedenfalls vor, ununterbrochen, bis ich kurz vor Mitternacht an mir herunter sah und zu meinem Erstaunen feststellen mußte, daß ich mich nur noch in extremer Zeitlupe bewegte. Gerd war immer noch nicht aufgetaucht. Zeit zu gehen.

Vor dem Eingang stand Lothar H., er könne nur „lieben und sonst gar nichts“, behauptete er von sich, das stimmte nicht ganz, Schlagzeug konnte er auch noch ganz ordentlich. „Nimmst du mich bis Leese mit, Zapp?“ Obwohl ich nicht nach Hause wollte, sondern in die andere Richtung nach Bückeburg mußte, tat ich ihm den Gefallen. Hinter der Kirche standen zwei sehr junge Mädchen und trampten uns an. „Aber nur bis Leese.“ Sie nickten freudig.

Als Lothar ausstieg, blieben sie sitzen. „Es geht nicht weiter. Ich fahre wieder zurück.“ Das war ihnen auch recht. Sie wollten noch etwas erleben in dieser Nacht. Aber was sollte ich mit ihnen anfangen? Sie waren entschieden zu jung, siebzehn und vierzehn, Cousinen, die jüngere bei der älteren in Münchehagen zu Besuch. Ich griff zu meinem goldenen Pillendöschen, das ich immer mit mir führte, seit wir im Spätsommer zusammengelegt und von den Chemieschülerinnen hundert Trips gekauft hatten, eine Mark das Stück, Straßenverkaufswert das Zehnfache. Die Ältere lehnte ab, wollte wohl die Kontrolle behalten, die 14-jährige griff dankbar zu, ich warf noch einen Trip nach. Wohin nun? Das Kanbach hatte schon zu, sie schlugen den Steinbruch vor, links ab auf dem Weg nach Bad Rehburg, dort, wo heute der Dinosaurierpark ist.

Der Himmel war klar, der fast volle Mond tauchte das Gestein in ein magisches Licht, in dem wir badeten, als wir den Rundweg entlang schritten. Ich fühlte mich wie ein Rockstar mit einem Gefolge aus blutjungen Groupies, die ältere, größere Cousine dunkelhaarig und dunkel gekleidet rechts neben mir, die zierliche blonde jüngere in einer hellen Jacke links einen halben Schritt zurück. Welch eine großartige Nacht, welch ein großartiger Ort für ein solches Unternehmen, versicherten wir uns gegenseitig, immer wieder lachend und laut juchzend.

Die Siebzehnjährige breitete die Arme aus und flog lachend auf mich zu, ihre Lippen wurden dunkler, fast schwarz, ihre spitzen Eckzähne blitzten im Mondlicht auf, ihr Lachen verzerrte sich zu einem häßlichen Krächzen: ein Vampir! Erschrocken taumelte ich zurück, wäre fast gestürzt. Die blonde Cousine betrachtete die Szene mit einem holdseligen Lächeln, verwandelte sich augenblicklich in einen Engel, in den ich mich auf der Stelle verliebte. Den Rest des Weges ging nicht mehr sie neben mir, sondern ich neben ihr, und ich achtete ängstlich darauf, daß ihre vampirische Verwandte meinen inneren Kreis nicht mehr berührte.

„Schade, daß wir dich nicht mit reinnehmen können, aber meine Mutter würde ausflippen“, bedauerte die Vampirin, als ich sie vor einem Einfamilienhaus aus dem Wagen ließ. Ich war einerseits froh, daß ich ihre Zähne nicht mehr länger zu fürchten hatte, andererseits schaute ich dem blonden Engel wehmütig hinterher.

Der Montagvormittag war grausam. Ich war hundemüde, kam nur schwer von diesem doppelten Trip wieder runter und wurde auch noch zu mehreren Fahrten mit dem Krankenwagen verdonnert. Gerd ging es noch schlechter. Er hatte erfahren, daß die Kopfschmerzen und Verrücktheiten seiner Mutter von einem Hirntumor rührten und sie nur noch wenige Monate zu leben hatte.

Am Dienstag war die Müdigkeit besiegt, stattdessen ging mir den ganzen Tag der liebreizende Engel nicht aus Kopf. Sofort nach Feierabend fuhr ich nach Münchehagen und zweimal an dem Haus vorbei, an dem ich die beiden abgesetzt hatte, traute mich aber nicht zu klingeln. Am Mittwoch war der erste Schultag nach den Herbstferien, da mußte sie wieder zu Hause in Sachsenhagen sein. Ich fuhr einige Straßen langsam auf und ab, erregte aber nur das Mißtrauen eines treckerfahrenden Bauern, weil ich ihn nicht überholen wollte. Am Donnerstag sah ich die Hoffnungslosigkeit und Idiotie meiner Suche schon vor der Abfahrt ein, bettelte stattdessen bei Schaub, unserem Pseudo-Intellektuellen mit der Brille aus Fensterglas, um seinen Kassettenrekorder, warf mich aufs Bett und hörte den ganzen Abend Gary Puckett in Endlosschleife.

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