Am 21. August 1968, es war ein Mittwoch, zogen wir im Triumph in Jönköping ein. Das Autoradio voll aufgedreht, Ola & The Janglers „Let’s Dance“, ich hatte mich durchs Schiebedach gezwängt, stand mit federnden Knien auf dem Beifahrersitz, reckte die Linke rhythmisch zum Siegeszeichen hoch und warf mit der Rechten staunenden Halbwüchsigen am Straßenrand Gitanes jaunes zu, die ich unbedingt wieder loswerden wollte. Ein Bully mit zwei Bremern auf dem Rückweg vom Nordkap war uns gegen Mittag auf der Landstraße begegnet und der Fahrer hatte mich überredet, meine letzten drei Roth-Händle gegen zwei Schachteln dieses teuflisch starken Krauts einzutauschen.
Wir waren zu fünft und mitsamt Gepäck und Zelten im Kadett unterwegs, der Erichs Mutter gehörte. Jönköping war ursprünglich nicht eingeplant, eigentlich wollten wir nach Kopenhagen, Tivoli und Tom Jones noch ein paar Tage auf Fünen verbringen, Moppel überredete uns zu diesem „kleinen Abstecher“, eine Susanne, deren Herz er erobern oder zurückerobern wollte, ich weiß es nicht mehr so genau, hielte sich dort längere Zeit bei Verwandtschaft auf und wir könnten sie doch an ihrem Geburtstag überraschen. Sie freute sich tatsächlich über unseren Besuch, aber die Nachricht vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, die wir zuerst von ihr erfuhren, drückte unsere Stimmung nicht wenig. Nicht nur unsere Hoffnung auf die Quadratur des Kreises, auf einen „dritten Weg“ war dahin, wir befürchteten ein Eingreifen der NATO und, Erich, Rolf und ich waren schon tauglich gemustert, daß die Bundeswehr ihre Finger nach uns ausstreckte. Von den Reden, die auf der Protestkundgebung am nächsten Abend, gehalten wurden, verstanden wir kein Wort, der Ton war aber so besorgt, daß wir beschlossen, erst einmal im neutralen Schweden zu bleiben, zur Not auch noch über das Ende der Sommerferien in der folgenden Woche hinaus.
Wir schlugen unsere Zelte auf dem Campingplatz direkt am Vättern oberhalb der Steilküste auf. Mich überkam an diesen Tagen, fünf wurden es noch, eine gewisse Langeweile, zog aber brav mit, wenn es hinunter zum See an den Strand ging. Am vorletzten Tag packte mich so etwas wie Abenteuerlust. Als die anderen sich auf den bequemeren, aber weiteren Rückweg machten, ein Mittagessen aus Dosen stand an, spazierte ich den kurzen Weg am schmalen Ufer entlang, fest entschlossen, unter dem Platz den steilen Hang hochzuklettern und vor ihnen anzukommen. Die ersten beiden Drittel bewältigte ich mühelos, doch dann ging es fast senkrecht nach oben, zum Schluß sogar mit ein wenig Überhang.
Hier kam ich plötzlich nicht mehr weiter und hing sozusagen in der Luft. Unter meinen Füßen begann es zu bröckeln, der Hang bestand ja nicht aus Fels, sondern aus mehr oder minder festem Sand, mit einer Hand bekam ich ein Grasbüschel aus der oberen Kante zu fassen, das auch nicht vertrauenswürdig fest im Boden verwurzelt war, mit der anderen krallte ich mich an eine Unebenheit. Ich dachte schon daran, mich fallen zu lassen, allzu hart würde der Aufprall nicht sein, die Höhe, zehn, zwanzig Meter vielleicht. Ich blickte nach unten und erschrak. Es schien mir sehr viel höher und der Boden war bedeckt mit zerbrochenen Glasflaschen und rostigen Konservendosen mit scharfen Kanten, Müll, den die Campinggäste der Einfachheit halber dorthin entsorgt hatten. Als ich dort unten entlang gegangen war, hatte es mich nicht weiter gestört, aber jetzt ergriff mich eine panische Angst, von Glasscherben und rostigem Blech aufgeschlitzt zu werden. Ich rief um Hilfe. Nach einer Ewigkeit, in Wirklichkeit wohl nach weniger als einer halben Minute, erschien Manni über mir, schüttelte grinsend den Kopf und zog mich gemeinsam mit Moppel hoch.
Sie lachten noch bis zum Abend über mich, als wollten sie die Gefahr nicht glauben, in der ich mich befunden hatte. Eine Kriegsgefahr, das war uns dann auch klar, ging von den Ereignissen in der Tschechoslowakei nicht aus, wir packten am Sonntag zusammen, erreichten die Nachtfähre von Göteborg nach Frederikshavn und fuhren in einem Rutsch zurück an die Weser.
13 Jahre später war ich, im Juni und frisch verliebt, mit meiner späteren Frau in Puerto de Soller an der mallorquinischen Nordwestküste unterwegs zu einer schönen, aber einsamen Badebucht, die man nur vom Wasser oder nach einem längeren Fußweg erreichen konnte. Der breite und bequeme, aber mäandernde Weg durch den Wald war mir zu weit, mich packte wieder die Lust auf Unbekanntes, so gingen wir einen schmalen Pfad an der Steilküste entlang, rechts von uns der Wald, links von uns, anfangs noch in sicherer Entfernung, der Abgrund zum Meer.
Mit der Zeit näherte sich der Weg immer mehr der Felskante, zwei Meter, ein Meter, fünfzig Zentimeter, bis er direkt daran entlang führte, links der Abgrund, rechts Fels, und sich in der letzten Biegung vor dem Ziel für vielleicht achtzig Zentimeter in Nichts auflöste, weggebrochen schon Jahrzehnte zuvor. Mit einem beherzten Sprung hätte man ihn auf der anderen Seite wieder erreichen können, aber anders als am Vättern war es hier viel höher und wir wären bei einem Fehlsprung nicht auf weichem Sand sondern auf hartem Felsen gelandet. Ein Blick nach unten, der Schwindel packte mich bis ins Gemächt und ich mußte mich bemühen, nicht zu taumeln und hinabzustürzen. Karin ging es noch viel schlimmer. Wir tasteten uns Schritt für Schritt zurück, immer bemüht, unseren Blick nur ja nicht nach unten zu richten.
Als wir wieder vierzig Zentimeter zwischen uns und dem Abgrund hatten, drehten wir um, gingen vorwärts weiter, aber nicht in Richtung auf die Bucht, sondern sehr schnell zurück ins Hotel, setzten uns an den Pool und beruhigten uns bei einigen Gin Tonic.