Kopftreffer waren nicht erlaubt, mein Gegner reichte mir nur bis ans Kinn, seine Arme viel kürzer als meine, trotzdem hatte er mich nach zwei Minuten in die Ecke des aus Stuhllehnen, Betten und dem Kampfrichtertisch improvisierten Rings gedrängt, ich konnte meine Arme kaum noch heben und mußte die auf meinen Brustkorb einprasselnden Schläge ohne Gegenwehr hinnehmen. Die Zuschauer, dicht gedrängt auf den zehn Betten in unserer Stube in der General-von-Stein-Kaserne, alle wie wir zur Teilnahme an den beiden San-Lehrgängen hierher abkommandiert, johlten und feuerten uns an, Lothar, mich endlich auf die Bretter zu schicken, mich, durchzuhalten und zum Gegenschlag auszuholen.
Eine Mark Eintritt hatten wir ihnen abgeknöpft für diesen Kampfabend und jetzt, im Finale, bekamen sie endlich etwas zu sehen für ihr Geld. Von Gerd kam die Idee, von Lothar, der als einziger etwas vom Boxen verstand, er trainierte in einem Verein und hatte auch schon ein halbes Dutzend Kämpfe Erfahrung, die beiden Paar Boxhandschuhe, acht von uns stellten sich als Kämpfer zur Verfügung, zwei als Kampfgericht. Eine Runde zu drei Minuten sollte jeder Kampf dauern, aber bisher waren erst zwei über die volle Distanz gegangen. Mein Auftaktgegner floh schon nach meinem ersten schwachen Treffer aus dem Ring, im Halbfinale stand ich unserem Riesen gegenüber, eins fünfundneunzig und hundert Kilo, der war aber zu unbeweglich und gab schon nach 90 Sekunden auf, Lothar war zweimal durch Solarplexus-Treffer nach noch nicht einmal einer halben Minute erfolgreich.
Ich wankte nicht und schaffte es bis zum Gong, ein Kaffeehaustablett aus Edelstahl, das Gerd aus der Kantine besorgt hatte. Zu meiner Überraschung wurde der Kampf unentschieden gewertet, ausdrücklich wegen meiner „Tapferkeit“, und Lothar zum Turniersieger erklärt, ein Revanchekampf für die nächste Woche angesetzt, Gerd witterte ein Geschäft. Doch dazu kam es nicht mehr. Unter der Dusche schmerzte mein Oberkörper höllisch, beim Versuch, mich einzuseifen, glitschte mir die Fa aus der Hand, ich war nicht mehr in der Lage, mich zu bücken und sie aufzuheben, und mußte mir sogar beim Abtrockenen helfen lassen, „Vorsicht, Vorsicht“, hörte ich mich jammern.
Am nächsten Morgen kam ich kaum aus dem Bett, es half nichts, ich mußte mich auf dem Krankenrevier melden und dem Arzt eine Lügengeschichte auftischen von einem freundschaftlich gemeinten Stoß vor die Brust, „nur einer, wirklich“, mit der Wahrheit wären wir alle in Teufels Küche gekommen, man ließ grinsend durchblicken, das mir das nicht abgenommen wurde, hakte aber nicht weiter nach. Beim Röntgen stellte sich heraus, daß ein winziges dreieckiges Stück aus dem Brustbein gebrochen war und sich ein wenig schräg gestellt hatte. Ich wurde zu einer Woche absoluter Bettruhe verdonnert, Husten verboten, und bekam Codeintabletten.
Da lag ich nun sieben Tage flach und durfte mich nicht rühren. Ich sehnte mich nach dem langweiligen Unterricht bei den Sanitätsfeldwebeln und nach dem Küchenbullen, der nach den Mahlzeiten von Tisch zu Tisch lief und uns einzeln zu Beurteilung und Kritik seiner Kochkünste aufforderte, als wären wir keine niederen Dienstgrade bei der Bundeswehr, sondern Restaurantkritiker, die Sterne zu vergeben hatten. Die Zigaretten, die ich in dieser Woche nicht rauchen durfte, vermißte ich zu meiner Überraschung weniger als unser Laufen nach Feierabend, der erste halbe Kilometer eine schöne Steigung, die mich jede einzelne Roth-Händle meines Lebens verfluchen ließ. Nach dem Abendsport besuchte mich der Haufen zwar jeden Tag und und leistete mir eine halbe Stunde Gesellschaft, zog dann aber ohne mich weiter in die Stadt.
Am Sonntag zuvor war ich mit Otto, meinem Bruder und dem Gönner auf einem „Beat-Nachmittag“ der Landjugend in Deblinghausen, Karnevalsveranstaltung ohne Verkleidung, und hatte dort eine Karin kennengelernt, dunkelblond, ihr dunkelblauer Redingote im schönsten Kontrast zu meinem Afghanenmantel, an viel mehr erinnere ich mich nicht, die drei fuhren ohne mich zurück, ich ließ mich von ihr zum Bahnhof bringen, ein kleiner Abstecher auf einen einsamen Feldweg, wir vergnügten uns eine halbe Stunde und verabredeten uns für den Sonnabend, wieder im Lindenhof.
Nun wartete sie vergeblich auf mich, ich hatte ihr auch keine Nachricht zukommen lassen, möglich gewesen wäre es, denn Friedhelm aus Liebenau, zwei Stuben weiter, zahlender Zuschauer bei unserem Preisboxen, war ihr Cousin, das hatten wir am Sonntag herausgefunden. An den letzten Wochenenden war ich immer mit ihm nach Hause gefahren, in seinem roten NSU TT, Heckmotor, aufgestellte Heckklappe für die Luftzufuhr, verdammt schnell, von Osnabrück über Espelkamp und die Dörfer des Südkreises nach Nienburg in 75 Minuten, kaum waren wir wieder in Niedersachsen wurde die Straße sichtbar schlechter, ab Lavelsloh war mit Hühnern auf der Fahrbahn zu rechnen, wenn Friedhelm in Warmsen aus Sicherheitsgründen auf 100 abbremste, kam es mir vor, als schlichen wir nur noch dahin.
Als nächsten Wochenende durfte ich wieder nach Hause, gemütlich mit der Bahn, denn für meinen rasenden Chauffeur ging es am Donnerstag wieder in seine Einheit zurück, für mich ab Freitag mit dem Lehrgang II weiter. Auf dem Küchentisch lag ein Brief von Karin, Montag geschrieben, Mittwoch angekommen, halb heißer Liebesbrief, halb Vorwurf und Abschied, ich legte ihn beiseite, zu einer Antwort konnte ich mich nicht aufraffen, und beschloß, an einem der verbleibenden Wochenenden in Osnabrück herumzustromern und die Stadt allein zu entdecken.
Jeans, kniehohe Wildlederstiefel, Pullover, Afghanenmantel, die Frisur immer noch recht kurz, aber schon ein paar Millimeter länger als vier Wochen zuvor bei meinem Göttinger Abenteuer, so marschierte ich am ersten Märzsamstag in die Osnabrücker Innenstadt ein. Die Diskothek, in der wir die ruppertsche Anbaggertechnik, zwei Männer sprechen zwei Freundinnen an, „das vervierfacht die Chancen“, oft genug vergebens ausprobiert hatten, war meine dritte Station. Der Fernseher über dem Eingang war an die Anlage angeschlossen und oszillierte die Musik in schwarz-weißen rhythmischen Bildstörungen, der Laden war gerammelt voll, aber es wurde nichts aufgelegt, was mich zum Tanzen animierte, und ich fand auch sonst keinen Anschluß. Weit vor Mitternacht hatte ich genug davon und machte mich zu Fuß auf den Rückweg.
Am Rand der Altstadt in einer Brücke über die Straße eine Bar, es herrschte noch Betrieb, freundliches Licht drang durch die Scheiben und lockte mich zu einem Absacker hinauf. An der Theke außer mir nur ein Mann Ende zwanzig im schwarzen Rollkragenpullover. Er prostete mir zu. „Wenn Sie noch etwas erleben wollen heute Nacht, im Western-Club fängt das Leben um diese Zeit erst an. Kommen Sie mit.“ Wir zahlten und machten uns auf den Weg.
Der Western-Club entpuppte sich wieder als Keller. Großes Hallo, ihn schienen alle hier zu kennen, die meisten begrüßte er einzeln, die Frauen sahen freundlich durch mich hindurch. Nach mehreren Cola-Rum hatte ich genug und legte mir den Afghanenmantel über die Schultern. „Komm her, ich begleite Dich ein Stück, wir haben denselben Weg.“ Nach ein paar hundert Metern durch unbekannte Straßen: Ich bräuchte nicht in die „blöde Kaserne“ zurück, könne auch bei ihm übernachten, das wäre „ganz bestimmt“ komfortabler. Als ich zustimmte, standen wir schon vor dem Haus.
Das Nachtlager auf einer Matratze zu ebener Erde, er legte sich an meine Seite und fing sofort an, mich zu befummeln. Ich rückte ab und erklärte ihm, daß es mir leid tue, ich aber nur Frauen liebe. Er schien einsichtig, bettelte aber darum, mich wenigstens „ein klein wenig“ am Bauch berühren zu dürfen, „ohne Hintergedanken“. Ich erlaubte es ihm mitleidig, er konnte nicht an sich halten, glitt mit der Hand tiefer, ich warf ihn von der Matratze, er beschimpfte mich jetzt wütend, ich sei ein intoleranter Spießer, der etwas gegen Schwule habe, dann wieder bettelnd, er möchte doch nur neben mir liegen, verspreche mir auch, mich nicht mehr anzufassen. Er kroch neben mich und versuchte es auch tatsächlich nicht mehr.
Einschlafen konnte ich nicht mehr. Ich lag bis halb sieben angespannt wach, auch als er schon längst ruhig und gleichmäßig atmete, stand dann auf, sammelte meine Sachen zusammen, schlich mich aus der Wohnung und stiefelte durch einen grauen Morgen zur Kaserne. Zehn Tage später sah ich ihn dann noch einmal, im Theater, „Jagdszenen aus Niederbayern“. Bis heute ist mir ein Rätsel, wie er es geschafft hat, ausgerechnet, den Platz neben mir zu ergattern.