Dann kam ein neuer Ingenieur, das war’n begeisterter Fußballer, der stand jeden Fußballspiel auf’n Schloßplatz. Und wenn er dann sah, daß ich eine Verletzung hatte, dann hat er denn gesagt: „Morgen bleiben Sie zu Hause, ich spreche mit Ihrem Meister.“ Und seitdem war ich der kleine Hergott.
Meine Heimat – das Kiesgruben- und Quarzsandsoziotop an der Mittelweser – hat schon einige überragende Fußballspieler hervorgebracht: Willi Kronhardt, der aber in Wirklichkeit in Kasachstan geboren wurde, Jens Todt, Nationaltorhüter Uli Stein, der 1986 von der WM in Mexiko nach Hause geschickt wurde, weil er Franz Beckenbauer als „Suppenkasper“ bezeichnet hatte, und nicht zuletzt der Rehburger Günter Hermann, der 1990 Weltmeister wurde, ohne eine Sekunde gespielt zu haben. Aber um keinen von diesen Spielern mit internationaler Karriere haben sich solche Legenden gebildet wie um Willi E., einen gefürchteten Außenstürmer, nicht größer als Thomas Häßler, dafür stämmiger als Gerd Müller, ausgestattet mit einer mörderischen Schußkraft, von der noch fünf Jahrzehnte später geraunt wurde. Ein gegnerischer Torwart soll einen Schuß, der genau auf den Mann ging, nicht überlebt haben.
Er wurde 1912 geboren, hatte schon in der Schulzeit und während seiner Lehre als Dreher nichts als Fußball im Kopf und war stets kampfbereit, wenn es darum ging, seinen Sport gegen Angriffe von irgendwelchen Autoritäten zu verteidigen. Seine fußballerischen Leistungen und die Position seines Vaters im Betriebsrat bewahrten ihn aber stets vor Schlimmerem.
Da sah ich schon die Hand. Umdrehen. Kinnhaken. Kinnhaken. Der Meister ging zu Boden und die Gesellen kriegten sich auch in die Haare. Fußball. Da die anderen. Es wurde dann wieder geschlichtet.
Als Sohn sozialdemokratischer Eltern, war es für Willi selbstverständlich, nicht in einem Verein des „bürgerlichen“ DFB zu spielen, sondern nur innerhalb des Arbeiter-Turn- und Sportbundes, in dessen Fußballsparte 1932 137.000 Mitglieder in 4.000 Vereinen gezählt wurden. Hier brachte ihn sein Talent schnell über regionale Auswahlmannschaften bis hin zu zwei Einsätzen in der ATSB-Auswahl – die Begriffe Nationalmannschaft oder Reichsauswahl waren in Arbeitersportkreisen verpönt. Er wurden in beiden Qualifikationsspielen zur Arbeiterfußball-Europameisterschaft 1932/34 gegen Polen eingesetzt.
Wir standen wieder mal kurz vor der Meisterschaft und es waren schon immer Gerüchte laut. Der P. und der E. wollten abhauen. Hannover 96 saß dahinter. Alle waren sie sehr empört. Die Straßen wurden besetzt. Um diese Einkäufer unschädlich zu machen. Dann war der P. nochmal hier und sagte zu mir: „Willi, ich bleibe hier.“ Ich sagte: „Das wollt‘ ich auch meinen.“ Und in der Nacht haben sie dann den P. abgeholt. Nicht. In Nacht und Nebel. Husch. War er verschwunden. Und war der Verräter.
Der kleine Herrgott war zwar seit 1931 arbeitslos, weil die Glasfabrik Heye den Betrieb eingestellt und 1.000 Arbeiter auf die Straße gesetzt hatte, seine Zukunft schien aber mit einer Anstellung in der Bundesschule des ATSB in Leipzig gesichert zu sein. Doch daraus wurde nichts. Das 4:1 gegen Polen am 26. Dezember 1932 sollte Höhe- und Schlußpunkt seiner Karriere bleiben. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 27.Februar die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, die Vereine und Verbände des Arbeitersports wurden verboten, die Funktionäre in Konzentrationslagern inhaftiert und einige auch ermordet.
„Kommen Sie mal her, E. Ich weiß, Sie sind dran zur Beförderung, aber das können wir nicht machen.“ „Warum nicht?“ Immer in schöner strammer Haltung. War ganz zackig dieser. „Dann müssen Sie erst zur NSDAP-Schule.“ „Ach“, sag ich, „jetzt wirds gemütlich. Dann will man mich umformen. Nein, das kann ich nicht machen.“
Und ich trau meinen Augen nicht. Wie ich auf dies Arbeitsdienstgelände komme, da ist mein Mordsturmführer Solo-Schröder Lagerführer da. Stellt sich vor uns hin: „Aaach! Da kommen ja die roten Schweine. Aber ich werde euch schon klein kriegen.“
Die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft überstand Willi E. erst im Freiwilligen, dann im Reichsarbeitsdienst und wechselte auch fleißig die Einsatzorte, immer abhängig davon, in welcher Auswahl man ihn gerade brauchte und seinen geliebten Fußball spielen ließ. Dann bekam er Arbeit als Dreher bei der Bremer Straßenbahn, trainierte zeitweise bei Werder, spielte aber in der Mannschaft der Straßenbahn, wurde mit einem Arbeitsplatz zurück nach Nienburg und zum Sportclub geködert. Weil er nie genug Fußball spielen konnte, lief er nebenbei immer wieder für Mannschaften auf, für die er keine Spielberechtigung hatte, und kassierte dafür eine zweijährige Sperre. Ehe die Sperre abgelaufen war, wurde er in die Wehrmacht einberufen und mußte in den Krieg ziehen.
Ging das wieder los mit Fußball. Die Kollegen kamen: „Kannst gleich wieder mitmachen. Sonnabend spielen wir Fußball. In Lemke gegen die Engländer.“ „Mach ich mit. Mach ich mit.“ „Wir besorgen dir alles. Kriegst Fußballschuhe. Alles.“ Das wurde dann auch besorgt. Und wir haben da rungewirkt. Die haben ihre Wucht gekriegt. Das kann ich Ihnen sagen. Aber immer so am Schienenbein runter, wirklich. Das ist nicht meine Art. Aber die Brutalität, die war entsetzlich. Und die nahmen – das war ja’n englischer Schiedsrichter – die nahmen das nicht so tragisch.
Nach seiner glücklichen Rückkehr aus dem Krieg konnte Willi leider nicht mehr an seine Erfolge aus den glanzvollen Zeiten vor 1933 anknüpfen. Eine langwierige Sportverletzung bedeutete dann das endgültige Ende seiner Fußballerlaufbahn. Ihm wurde eine Stelle als Schulhausmeister angeboten und der kleine Herrgott, der dank seiner Fußballkünste so ziemlich alles bekam, was er sich wünschte, verwandelte sich in einen Tyrannen, der angriffslustig keinem Zweikampf aus dem Wege ging und vor dem sich Schüler, Lehrer und Vorgesetzte gleichermaßen fürchteten.
Ich habe vier Schulleiter überl…, überdauert. Der eine wollte mich mal rausschmeißen. „Nee, das können Sie gar nicht.“ So, wie diese Schulleiter heute sind. Sie meinen, sie hätten unheimliche Gewalt. Dabei sind sie noch häßlicher wie ’ne Putzfrau. Denn mitunter, muß ich sagen, der Lehrer hat ja, die haben ja ’n Brett vorm Kopf. Die kennen nur ihre Welt. Ihre Bücher. Aber ’n Nagel in die Wand hauen. Das können sie nicht. Ja. Ja. Und dann habe ich ihm ja klar gemacht, daß ich bei ihm gar nicht beschäftigt bin.
Doch. Doch. Fußball prägt ungemein.