Rüdiger

Anfang November nachts um halb zwei mit Badekappe, Taucherbrille und einskommazwei Promille in verkehrter Richtung in die Einbahnstraße. Ich saß daneben und hatte noch gewarnt: „Rüdiger, das ist eine Einbahnstraße!“ „Bleib cool, ich fahre hier immer durch. Das ist eine Abkürzung.“ Am Ende standen sie schon, lässig an ihren Wagen gelehnt und winkten uns an die Seite. Rüdiger mußte mit auf die Wache zur Blutprobe und ich stand wieder einmal mutterseelenallein auf der Straße, hatte niemanden, der mich zurück in mein Kellerzimmer nach Schulenburg brachte, und auch kein Geld für ein Taxi. Da blieb mir nichts anderes als der Fußweg zurück zu den Leuten, bei denen wir Rüdigers Geburtstag gefeiert hatten, um dort auf dem harten Fußboden zu schlafen.

Die Unannehmlichkeiten der Nacht waren schnell vergessen, aber Rüdiger wurde seinen Führerschein für neun Monate los. Zu allem Unglück war auch ich damals für eine noch längere Zeit ohne. Freitag, Samstag und Sonntag fuhren wir normalerweise ins Kanbach nach Münchehagen. Das mußten wir jetzt einschränken. Was viel schlimmer war, wir konnten einen vielversprechenden Anbandelungsversuch nicht fortführen.

Klaus, Rüdiger und ich suchten damals gemeinsam eine Wohnung in Hannover. Gefunden haben wir keine. Die einzige, die wir hätten kriegen können, war mit der Toilette in der Küche und die wollten wir nicht.

Die trennen Sie mit einem Vorhang ab, da sind Sie praktisch allein und unsichtbar beim Scheißen, meine Herren, Möbel holen Sie sich aus dem Keller, was Ihnen gefällt, und Damenbesuch, Damenbesuch, so viel und so oft Sie wollen.

Um überhaupt eine Chance zu haben, mußte man der erste Anrufer auf eine Wohnungsanzeige sein. Deshalb versammelte sich jeden Freitag gegen 23 Uhr immer ein größerer Haufen Wohnungssuchender vor dem Anzeigerhochhaus in der Goseriede und wartete, bis der ältere Herr mit Moped und einem Anhänger voll mit den ersten Exemplaren der Samstagausgabe durch den Torbogen geknattert kam, stellte sich ihm in den Weg und kaufte ihm ein paar Zeitungen ab. Er durfte zwar keine an uns verkaufen, es blieb ihm aber nichts anderes übrig, wenn er seine Tour fortsetzen wollte.

Klaus besetzte immer rechtzeitig eine Telefonzelle an der Ecke Otto-Brenner-Straße, Rüdiger, unser Schnellster, riß den Teil mit den Wohnungsanzeigen an sich und rannte los, ich trottete mit dem Rest der Zeitung hinterher. Die Vermieter fühlten sich durch diese nächtlichen Anrufe meist nur belästigt, vor allem, wenn sie hörten, daß drei junge Männer eine WG aufmachen wollten. Für uns ein Grund, über diese unfreundlichen Menschen zu lästern und bei mir noch einen Absacker zu nehmen.

Bei dieser Gelegenheit stießen wir auf eine Bekanntschaftsanzeige, die uns elektrisierte. Zwei junge Frauen suchten zwei „verrückte Typen“, mit ihnen an den Wochenenden etwas zu unternehmen und sie an die Orte zu kutschieren, an denen etwas los war. Zu zweit waren wir – Klaus war vergeben und aus dem Rennen – und verrückt genug fühlten wir uns auch, ohne Frage. Aber wie ihnen das klar machen und die Konkurrenz ausstechen? Wir entschlossen uns, keinen Brief zu schreiben, sondern einen Comic zu zeichnen. Rüdiger als angehender Grafiker zeichnete, ich zog mir meine Schriftstellerjacke (Feincord, beige-braun) an und lieferte den Text. Unser Comic gefiel, Briefe hin und her, ein erstes Treffen war schon abgemacht. Doch Badekappe, Taucherbrille und Einbahnstraße stellten sich dazwischen. Ohne Fahrzeug und Führerschein kein Treffen. Klaus bot noch an, für einen von uns einzuspringen und zu fahren, aber da weder Rüdiger noch ich freiwillig verzichten wollten und seine Dora ihm die Augen auszukratzen drohte, wurde das Abenteuer abgebrochen.

Rüdiger studierte mit meinem Bruder zusammen Kommunikationsdesign und gehörte wie wir und Klaus zu den Stammgästen im Kanbach in Münchehagen. Am Wochenende waren wir dort zu finden und tranken Urbock (Rüdiger, mein Bruder, ich) oder auf der Tanzfläche Portwein aus Flaschen (Klaus, Dora, die Frau mit dem Glasauge, ich). In der Woche war ich meist aus proletarischen Gründen verhindert, tagsüber Arbeit bei Telefunken im Lager oder beim Gärtner in Altwarmbüchen, abends politische Termine. An diesen Tagen zog Rüdiger mit meinem Bruder durch ihre Szene: Turm, Gemütliche Ecke, Leinedomicil, Mülltonne, Maulwurf.

Im Maulwurf war ich auch einmal mit Rüdiger. Das war in der Zeit, als ich die Weltrevolution in die Ecke gefeuert hatte und wieder Ton, Steine, Scherben hören durfte. Und es ist übel ausgegangen. Wir trafen dort einen alten Kumpel von Rüdiger, der zu Hause noch „schönen Stoff“ habe, den könnten wir zusammen rauchen, er wohne auch „gleich um die Ecke“. Ich hatte schon drei Jahre nichts mehr geraucht, zögerte, zauderte. „Los, laß uns mitgehen“, Rüdiger stimmte mich um, rauchte aber am Ende selber nichts mit, was mich wohl gerettet hat. Denn als ich gerade so schön drauf und zufrieden mit der Welt war, richtete dieser Mensch plötzlich seine Schreibtischlampe voll in mein Gesicht. Redete mich mit „Sie“ an. Ich solle gestehen. Ich wußte nicht, was, und er wiederholte immer nur stur, ich solle gestehen, er zunehmend drohender im Tonfall, ich immer unsicherer. Er griff in seine Schreibtischschublade, holte einen Revolver hervor, zielte auf meinen Kopf und wiederholte seine Forderung. Wäre ich nicht bekifft gewesen, hätte ich mir gewiß vor Angst in die Hosen geschissen, aber so schaute ich nur verdutzt aus der Wäsche und begriff gar nichts mehr. Im Gegensatz zu Rüdiger, der beruhigend auf seinen Kumpel einredete und den Moment, in dem der die Waffe ein wenig senkte, ausnutzte, mich am Arm faßte und hinter sich her aus der Wohnung zerrte. So hat Rüdiger mich erst in diese Gefahr gebracht und dann daraus errettet. Bis heute weiß ich nicht, ob die Waffe echt und geladen war, und bis heute habe ich nie wieder Gras oder Shit angefaßt.

Geblieben ist nicht viel von dieser Zeit. Den Comic gab es nur in einem Exemplar und das ist wahrscheinlich von den beiden Damen entsorgt worden. Ein paar Fotos, die Rüdiger geschossen hat. Das „Schauspielerfoto“, das meine Frau aus Enttäuschung zerrissen hat, einige Bilder, in denen ich malerisch auf einem Schrottplatz herumkrieche, die Fotoserie für Rüdigers Abschlußarbeit bei Riebesehl, für die ich so ballettmäßig elegant wie möglich einen Meter über einem huckligen Acker schweben sollte – und er im richtigen Moment auf den Auslöser drücken – ein nerviger Nachmittag. Das kleine Filmprojekt, in dem Rüdiger als Weihnachtsmann verkleidet und mit einer Axt bewaffnet in einer Tannenschonung wie besinnungslos Bäume abhacken sollte, wurde dann doch nicht verwirklicht, weil den Hauptdarsteller in letzter Minute der Mut verließ.

Was machen wir, wenn der Förster kommt?

Als er mit der Fachhochschule fertig war, hat Rüdiger auch der Mut verlassen und er wollte partout nicht ins hektische Agenturleben einsteigen. Er hat Psychologie studiert und, weil es so schön war, noch eine Ausbildung in Psychoanalyse und Psychotherapie angehängt. Heute hat er mit einem anderen Freund von mir, einem Paartherapeuten, eine Gemeinschaftspraxis und Sie können sich bei ihm auf die Couch legen.

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Eine Antwort zu Rüdiger

  1. milchhonig sagt:

    Von der falschen Richtung einer Einbahnstraße (nur eine Sache der Definition) zur Psychoanalyse – Rüdiger gefällt mir. Aber wenn der Förster kommt ist dann Ruhe im Karton – dabei geht’s doch dann erst richtig los. „Geblieben ist nicht viel von dieser Zeit“ – vs. „Im Blick zurück entstehen die Dinge“ – phantastisch.

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