Lichte Momente 2: Good Vibrations

„Jetzt.“ Verschwörerisch leise und wie aus einem Munde. Auf dieses Kommando warfen wir die kleinen weißen Pillen ein, spülten sie mit dem lauwarmen Bundeswehrtee hinunter, standen auf, wieder gleichzeitig, stellten das Geschirr weg, gingen noch einmal kurz auf unsere Stuben, um uns umzuziehen, und fuhren dann in meinem grünen Käfer los, Ruppert, Gerd C. und ich, an diesem sonnigen Mittwochabend im September ausnahmsweise nicht nach Münchehagen ins Kanbach, sondern in Richtung Rinteln.

Gerade als wir unter der Autobahn hindurch waren, gefiel uns ein Feldweg, wir bogen rechts ab von der Landstraße, stellten den Wagen nach wenigen Metern ab und hüpften und tanzten mehr als wir gingen den bewaldeten Hügel hinauf: die Wirkung der Trips hatte schon eingesetzt.

Oben lagen drei Baumstämme im Moos, wir balancierten mit weit ausgebreiteten Armen auf ihnen, bereit, darin die ganze Welt und vielleicht noch ein bißchen mehr zu empfangen. Die Abendsonne blitzte durch die Bäume, Schattenspiele erfreuten das Auge, das Licht wärmte uns: „Goldener September!“ begann ich voller Inbrunst zu rufen, „Goldener September!“ echoten die beiden im Chor beziehungsweise wir alle drei im Kanon: „Goldener September! Goldener September! Goldener September!“

Gerd entdeckte einen großen Stein, Sitzhöhe vielleicht ein dreiviertel Meter: „Wenn wir uns jetzt darauf setzen, können wir mit ihm eins werden und von ihm erfahren, was der Fels in den Jahrmillionen seiner Existenz erlebt hat.“ Gerd hatte Castaneda gelesen, es kann auch Leary gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Ich war wohl etwas zu weit in der Zeit zurückgegangen und stand ziemlich schnell wieder auf, weil ich keine Lust hatte, mir den Hintern an der Lava zu verbrennen wie einst als Fünfjähriger an der gußeisernen Platte des Kohlenherdes. Die beiden anderen blieben sitzen und plötzlich vibrierte alles im Umkreis von sechs Metern, strahlenförmig vom Stein ausgehend.

Solche Vibrationsempfindungen auf dem Trip kannte ich schon, beim Eisessen fein auf der Zunge oder beim Rauchen prickelnd in der Mundhöhle, noch jahrelang konnten Eisgenuß oder Zigaretten diese Sensationen auch ohne Trip wieder hervorrufen, kurz zuvor beim Altstadtfest in Hannover hatten mich die „Vibrations“ bei geschlossenen Augen länger als eine Viertelstunde berührungslos sicher durch das Gedränge geleitet, vielleicht sind die Menschen auch nur ängstlich vor dieser seltsamen Gestalt ausgewichen, diese Vibrationen waren viel intensiver, erfaßten nicht nur die Luft, auch den Stein, uns Menschen darauf und davor und die Bäume ringsum, ich konnte sie sehen, hören, auf der Haut und im Körperinneren spüren. Sie entfernten sich vom Stein und von uns, bildeten einen Strahlenkranz, der sich stetig verengte und in die Höhe stieg, bis er wie ein Heiligenschein über mir stand, sich zuerst zu einem Kugelblitz und schließlich zu einem winzigen Punkt verdichtete, der in Lichtgeschwindigkeit in meinen Kopf zurückkehrte.

Welche Erleuchtung: „Nur aus meinem Kopf, alles kommt nur aus meinem Kopf“, predigte ich freudig erregt, als sei mir die Quadratur des Kreises gelungen. Ruppert und Gerd aber lächelten nur nachsichtig und wollten nicht von ihrem Glauben ablassen, das LSD stelle eine geistige Verbindung zwischen ihnen und toten Gegenständen her.

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Lichte Momente 1: Lächerlichkeit des Seins

Da saßen wir an diesem kalten Samstagabend Ende Dezember 1970, Gaggi M., Ahab K. und ich, auf der Bank an der Bushaltestelle vor dem Bahnhof und tauschten lachend Gedanken von philosophischer Untiefe aus. Die Trips hatte Gaggi von diesen drei coolen Typen Ende dreißig mit Kurzhaarschnitt und Bärten besorgt, im Gegensatz zu uns stets korrekt gekleidet, altehrwürdige User, mit bewußtseinserweiternden Drogen schon seit den 50er Jahren vertraut. Ahab hatte nichts eingeworfen, das machte er nie, er sei sowieso „immer so drauf“ und das LSD könne seine Weisheit nur ins Gegenteil verstärken.

Aus der Bahnhofshalle kam Oskar auf uns zu, die Hände in den Hosentaschen, leicht schwankend. Wir gehörten zu den Bekannten seiner Freundin, sonst berührten sich unsere Kreise nicht, wir wußten, daß sie sich mit ihm am liebsten im Keller auf dem Billardtisch ihres Vaters vergnügte, und daß er Medizin studierte in Hannover, natürlich, das war aber auch alles.

Er verschonte uns nicht, kam immer näher, blieb dann vor der Bank stehen, unterbrach unser Gespräch über die Liebe, überschwallte uns, froh, jemanden gefunden zu haben, dem er sein Herz ausschütten konnte, das Studium, alles so schwer, das bevorstehende Physikum, die Furcht, es zu verhauen beziehungsweise einmal schlechter als gut zu sein. Mit jedem Wort kamen mir seine Probleme lächerlicher vor angesichts des Universums, der Unendlichkeit und der Geheimnisse wahren Lebens. Was jagst du den falschen Göttern nach, wollte ich ihm sagen, komm lieber her, nimm eine Pille und spüre die Weite des Seins, aber ich blieb stumm, begann nur innerlich lauthals zu lachen über diesen verschrumpelten Luftballon von Problemen, Geist und Leben, ein Bauchlachen, nach außen ließ ich nichts als ein ernsthaftes Desinteresse und ein leichtes Grinsen durch.

Irritiert blickte Oskar von einem zum anderen, wandte sich ab, drehte sich einmal um die eigene Achse, trottete dann davon, den Berliner Ring entlang. Ich beschloß, genug zu haben von der Gesellschaft Ahabs und Gaggis, holte ihn mit großen Schritten ein, lief fünfhundert Meter schweigend neben ihm her, an der Hannoverschen Straße bog er links ab in Richtung Bürgerhalle, ich lief die restlichen sechseinhalb Kilometer bis nach Hause im Gehertempo, so kam es mir jedenfalls vor, geradeaus weiter durch die Kälte.

Mein Bruder war gerade von seiner Tour durchs Dreieck Sandkrug, Post, Ochsentränke zurück, sah mich nur einmal kurz an und wußte sofort Bescheid: „Du bist drauf, und wie!“ Ich, der ich ihm jahrelang als Muster an Bravheit und anständigem Lebenswandel vorgehalten worden war, nahm dasselbe Zeug wie er … Lachend gingen wir zu Bett.

Oskar sah ich nach dieser Begegnung nie wieder. Er soll sich einige Jahre später das Leben genommen haben.

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Gasthof Bahlmann

Dann war da noch der schwer Abgefüllte in der schmuddeligen Arbeitsjacke vor dem Spielautomaten im Gasthof Bahlmann in Schessinghausen, an einem Sonntagspätnachmittag zwischen Weihnachten und Silvester wie heute, der die siebzig Mark, die ihm die Goldene Serie eingebracht hatte, im Gerät ließ und weiterspielte, fluchte, tobte und den Kasten mit den Fäusten bearbeitete, als der nur noch kleinere Gewinne herausrückte und ihm eine weitere Serie verweigerte, so lange, bis der Apparat nicht nur den kompletten Gewinn, sondern darüber hinaus auch noch den letzte Groschen aus seinen Taschen wieder geschluckt hatte, er nicht einmal mehr seine Zeche bezahlen konnte und sanft vor die Tür gesetzt werden mußte. Goofy, der Bruder von Günni, ist mein Zeuge.

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Völker, hört die Signale

Dann war da noch das Pärchen aus Lüneburg, beide in der KPD organisiert, das beim Orgasmus immer die Internationale absang, alle Strophen, um damit die konterrevolutionäre Sünde eines allzu lustvoll erlebten Geschlechtsakts abzuwaschen. Sabine erzählte mir vor vierzig Jahren im Bett davon.

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Fernseh‘

An diesem Mittwochnachmittag im Juli 1974 regnete es auch in Hannover, nicht nur in Frankfurt. Wir wollten uns das Weltmeisterschaftsspiel gegen Polen nicht wie das gegen Schweden in dieser Kneipe in der Lister Meile anschauen. Deshalb hatte ich mir in dem kleinen Radio- und Fernsehgeschäft um die Ecke einen Fernseher geliehen, gebraucht, Schwarz-Weiß, 52 cm, Zimmerantenne, dazu einen halben Kasten Lindener. Wolfgang „Jagger“ H. und seine Freundin Inge waren schon da, Dora, die Buchhändlerin lernte am Ende der Lister Meile, wollte nachkommen. Damals wohnte ich beim Kohlenhändler in der Sedanstraße unter dem Dach, ein Zimmer, Klo mit Waschbecken über den Dachboden, kein Warmwasser, keine Heizung, aber auch nur 150 Mark.

Was wir auch anstellten, auf welche Tasten wir drückten, an welchen Knöpfen wir drehten, wie wir auch mit unseren Fäusten aufs Gehäuse hämmerten: das Gerät wollte uns außer Schnee kein Bild zeigen, Ton gab es auch nicht, nur Rauschen. Es war schon fünf vor halb fünf. um halb sollte der Anpfiff sein. Panik kam auf. Inge behielt die Ruhe: „Zurückbringen, umtauschen.“ Ich schnappte mir das Gerät, die Treppen runter, durch den Regen um die Ecke in die Große Pfahlstraße, die beiden hinter mir her. Das Geschäft war geschlossen. Mittwochnachmittag, daran hatten wir nicht gedacht. Im Eilschritt brachte ich das Gerät zurück unters Dach, dann hetzten wir weiter durch die leergefegte Lister Meile im Regen zur Fernsehkneipe. Als wir durchnäßt ankamen, war es schon fünf Uhr, eine halbe Stunde zu spät. Aber weil in Frankfurt ein Wolkenbruch das Spielfeld in einen See verwandelt hatte und die Feuerwehr so lange brauchte, es einigermaßen bespielbar zu machen, wurde das Spiel gerade in dem Moment angepfiffen, als wir uns setzten. In der 76. Minute schoß Gerd Müller zum 1:0 ein und alle Aufregung war vergessen.

Bis zur Fußballweltmeisterschaft 1974 hatten wir zu Hause keinen Fernseher. Bücher hatten wir und Zeitungen: die „Hannoversche Presse“, die war sozialdemokratisch, die Harke nicht, die war meinem Vater zu weit rechts, dann die „Hören und Sehen“ fürs Radioprogramm und später auch den „Stern“. Und wir hatten ein Radio, es stand in der Stube auf der Anrichte, ein Nordmende mit einem magischen Auge, das anzeigte, ob der Sender genau eingestellt war.

Das „Echo des Tages“, immer nach dem Abendessen, und der „Internationale Frühschoppen“ am Sonntag vor dem Mittagessen brachten uns das Weltgeschehen ins Haus, zur Unterhaltung am Sonnabend während des Bohnerns und des Schuheputzens Hermann Hoffmanns „Kleine Dachkammermusik“, der Abend gehörte Sendungen wie „17 und 4“ mit Robert Lembke, der Funklotterie „Ja oder Nein“ oder bunten Abenden mit Peter Frankenfeld und Lonny Kellner. Vor allem aber Hörspiele, Hörspiele, Hörspiele: „Draußen vor der Tür“, „Dickie Dick Dickens“, wir waren süchtig nach den Geschichten mit dem Gangsterboss von Chicago, Effi Marconi und Opa Crackle, auch an eine Hörfassung von Arno Schmidts „Tina“ kann ich mich entsinnen.

Am Sonntagnachmittag zogen wir dann zu fünft bis zu neunt los, bei anderen Leuten fernzusehen: Lassie, Fury, Rin Tin Tin. Entweder zu den alten Mays, die ließen uns immer in ihre Stube, egal, wie groß unser Haufen war, aber als erste Hürde war der schon auf der Straße herumspringende und wütend kläffende Spitz zu überwinden, der es ausgerechnet auf meine Hosenbeine und meine Waden abgesehen hatte und die anderen schonte, außerdem roch es bei den beiden alten Leuten immer nach abgestandener Pisse.

Oder zum alten Scheffler. Aber das sahen unsere Eltern nicht so gerne. Der wohnte in einer riesigen Einzimmerwohnung, einer umgebauten Scheune, vier Stühle für uns Kinder am Fußende des Bettes, der Fernseher an der Wand gegenüber, der alte Scheffler lag immer im Bett, meist mit seiner Geliebten, Einemarkfünfzig hieß sie im Dorf, weil das angeblich ihr Tarif war, dann konnten wir uns kaum entscheiden, wohin wir schauen sollten, auf die spannenden Filme vor uns auf der Mattscheibe oder auf das Geschehen unter den Laken im Bett hinter uns.

An normalen Wochentagen konnten wir nur zu den Otts, ein kinderloses Ehepaar, das in einem Behelfsheim am Osterberg wohnte, einem märchenhaften Holzhäuschen, die waren freundlich, ließen uns aber nur sehr selten hinein, und wenn, dann höchstens zu dritt.

Die Zahl der Fernsehgeräte im Dorf wuchs, unsere Trupps wurden immer kleiner, am Ende zogen mein Bruder und ich nur noch allein los und wurden von den Leuten fast mitleidig angeschaut. Dann schaffte sich der jüngste Bruder meiner Mutter, Onkel Alfred, einen Fernseher an, und es wurde zum guten Brauch, dort fast jeden Sonntag mit allen Zweigen unserer großen Familie aufzukreuzen, unangenehm nur, daß ich auch auf dem Weg dorthin am bissigen Spitz der Familie May vorbeimußte.

Die Tante servierte Kaffee, für uns Kinder, fünf insgesamt, nur halb und halb, und fette Buttercremetorten, und während der in grünes Dschungellicht getauchte Zimmerspringbrunnen vor sich hin plätscherte, lief der Fernseher: Filme mit Hans Moser und Heinz Rühmann und, weil er auch Ostzone empfangen konnte, eine ungarische Miniserie, die im 2. Weltkrieg spielte – Kinder beteiligen sich am Widerstand gegen Wehrmacht, SS und Pfeilkreuzler – oder „Wolf unter Wölfen“ – die Szene mit der erzwungenen Champagnerorgie im Hotel gefiel mir so gut, daß ich begann, Fallada zu lesen. Wenn sie um einen dritten Mann verlegen waren, wurde ich auch vom Fernseher weg in die kleine Stube befohlen, wo mein Vater und Onkel Manfred Skat um Zehntel spielten und mich um mein Taschengeld brachten.

Bald waren wir wohl die einzige Familie im Dorf ohne Fernseher, außer uns nur noch das greise Ehepaar in der Nachbarschaft meiner Oma Berta, die „nie geklebt hatten“, als Knecht und Magd größtenteils mit Deputat entlohnt wurden, im Alter nun bittere Armut litten und sich kein Gerät leisten konnten. Mein Vater weigerte sich beharrlich. Einschränkungen beim Rauchen, beim Essen oder bei den Büchern, nur um auf einen Fernseher zu sparen, kamen für ihn nicht in Frage. „Außerdem, ich kenne mich doch, dann hocke ich nur noch vor der Glotze und verblöde wie die anderen.“ Das wollten wir doch sicher nicht, daß es dazu komme. Erst im Jahr der Fußballweltmeisterschaft gab er seinen Widerstand auf und genehmigte ein Schwarz-Weiß-Gerät.

So saßen dann mein Vater, mein Bruder und ich am 7. Juli in der heimatlichen Stube einträchtig nebeneinander auf dem Sofa, schauten das Endspiel und genehmigten uns, wie vorher vereinbart, für jedes Tor, das die deutsche Mannschaft gegen Holland schoß, einen Cognac und eine Zigarre. Nach der Pleite mit dem Leihgerät schaffte ich mir übrigens einen eigenen Fernseher erst sieben Jahre später an, als ich mit meiner späteren Frau zusammenzog.

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Skilly

Sieben Halbe brauchte er, bis er den Mut fand, die Frau des Geschäftsführers zum Tanz aufzufordern, sie willigte lächelnd ein, die Tanzkapelle spielte einen Marschfox, er aber preßte sie an sich, als sei es ein Klammer-Blues, sie widersprach freundlich lächelnd, er entließ sie trotzdem nicht aus dem Schraubstock seiner Arme, immer noch lächelnd, stieß sie ihn zurück, er war einen Moment irritiert, taumelte kurz, tänzelte, ja, tänzelte dann zur Kapelle und äußerte einen Musikwunsch: Skilly auf dem Betriebsfest des Kraftfutterwerks im Grünen Jäger in Verden.

Als die Musiker kopfschüttelnd ablehnten, ging er vor ihnen auf die Knie als wolle er um Gnade winseln, besann sich dann aber, blieb auf den Knien, und dirigierte, den Oberkörper schwer hintenüber gebeugt, die Kapelle in propellernd ausladenden Gesten mit seinen Schaufelhänden, und sang dabei, losgelöst von dem Stück, das sie gerade spielten, das andere Lied, das er sich wohl gewünscht hatte, und übertönte sie dabei fast.

Die großen Hände und Füße hatte er von seiner Großmutter geerbt, die mit der Schuhgröße 54 gesegnet war und das Regiment auf dem Hof führte, auf den sein Vater nur eingeheiratet hatte, Oma von Busch, seine Mutter, sein Vater, sein älterer Bruder, zum Schluß Skilly, das war die Familienhierarchie. Wir waren im selben Schuljahr, deshalb beide bei Lehrer Marquardt, 1. bis 4. Klasse im hinteren Raum, die 5. bis 8. Klasse hatte bei Lehrer Goschke im vorderen Raum. Er hatte den kürzesten Schulweg, nur quer über den Schulhof und durch das Loch in der Hecke, manchmal gingen wir mit und stöberten ein wenig in diesem großen Haus herum, in dem es so wunderbar alt roch.

Als wir dabei in einer Schublade im Telefontisch auf der Diele eine Sechserpackung Astor fanden, fünfzig Pfennig damals im Gasthaus Zur Linde oder bei Brandts Louise im Laden, konnten wir Skilly überreden, sie einzustecken und mit uns zu teilen. Am Nachmittag saßen wir dann zu dritt, Ziska, Skilly und ich, in der Hecke, die Thieheuers Bullenweide von Soßmanns vier Milchkühen trennte, und pafften, Rauchen konnte man das wirklich nicht nennen, so schnell und hastig es eben ging, die Schachtel mußte leer sein, bevor Soßmanns Werner zum Melken kam und uns erwischte. Ich war damals acht, es waren die ersten Zigaretten meines Lebens, erwischt hat uns niemand und ob der Diebstahl ans Tageslicht gekommen ist: wir haben nicht danach gefragt.

Wenn im Winter genug Schnee lag und weder Skillys Vater oben noch Steinhauer unten dazu gekommen waren, den breiten Weg, zwei Fuhrwerke kamen bequem aneinander vorbei, zu räumen, konnten wir wunderbar die fünfzig Meter bis hinunter zur Betonstraße rodeln. Allein bäuchlings oder sitzend, das war ganz und gar ungefährlich, zu zweit und zu dritt sitzend, wir wurden immer verwegener, als sich dann mein Bruder auf unseren Schlitten legte und sich Skilly, Heiner sowie beiden ältesten Lausecker-Brüder und auf ihn setzten, war es dann doch zuviel, mein Bruder konnte nicht mehr lenken, kam weit nach links ab, nach rechts sind wir beide auch im späteren Leben nie abgedriftet, krachte in ein Fuhrwerk, mit der Stirn geradewegs gegen die Wagennabe, der Schlitten blieb heil, mein Bruder hatte ein Loch im Kopf, „ein Wunder, daß er noch lebt“, das vom Arzt im Nachbardorf genäht werden mußte: „Onkel Doktor, dein Schnaps riecht aber besser als der von Papa.“

War das Wasser im Löschteich, schräg gegenüber auf der anderen Seite der Betonstraße, im Sommer nutzten wir ihn als Schwimmbecken, an der tiefsten Stelle ging mir das Wasser gerade bis zur Brust, war das Wasser im Winter gefroren, spielten wir dort Eishockey, die Schläger meist Äste, im besten Fall aus Latten von Tischler Büschking zusammengenagelt, egal, wieviel Holz wir brauchten, wir Kinder mußten immer zehn Pfennig dafür bezahlen. Ich spielte mit einem Ast, den Groschen gab ich lieber für eine Wundertüte mit einem Sigurd-Heft aus. Skilly und der älteste der Lauseckers spielten auch mit ziemlich dicken Ästen, Skilly traf den Lausecker aus Ungeschick am Arm, der wurde wütend, schlug zurück, ein Schlag gab den anderen, sie forderten sich gegenseitig auf, vom Eis zu gehen, drohten mit mühsam zurückgehaltenen Tränen in den Augen mit ihren Vätern, stapften dann plötzlich auf ihren Kufen los, die zu holen.

Jetzt standen sich die beiden Väter mit erhobenen Fäusten gegenüber, Bauer, Einheimischer der eine, Wirt der „Weserfähre“, Hundezüchter, Vater von sechs Kindern, Flüchtling der andere. „Von so einem Fettwanst von Bauer lasse ich mir gar nichts bieten“, dabei war Skillys Vater eher mager, „Kartoffelkäfer“, „von wegen, alles habt ihr uns abgenommen für ein paar Kartoffeln“, „den Lastenausgleich kriegt ihr in den Arsch geblasen“, „du hast dich doch selbst schön ins gemachte Nest gesetzt“, „Ficken und Kinder in die Welt setzen, mehr kannst du nicht“, „ihr seid doch alle zu vollgefressen dafür“, „dumm wie Bohnenstroh“, so ging das wohl eine Dreiviertelstunde, es war schon dunkel geworden, die beiden Jungen waren längst wieder auf dem Eis und hatten sich vertragen, wir spielten weiter und ließen uns von dem Gezetere nicht stören. So lange sich die beiden stritten, mußten wir nicht nach Hause.

Zwischen uns Kindern verliefen die Fronten nicht so wie zwischen den Eltern. Die Bundesstraße, die das Dorf in Ober- und Unterdorf teilte, bestimmte unsere Zugehörigkeitsgefühl. Skilly, die Lauseckers, die Steinhauers, Wolfgang, Heiner, mein Bruder und ich, wir gehörten zum Unterdorf, unser Reich war Thieheuers Park mit der halb zerfallenen Grotte, zu dem die aus dem Oberdorf keinen Zutritt haben sollten, vor allem durften sie nicht mitbekommen, daß wir dort heimlich nach Kohle und Öl gruben und damit reich zu werden gedachten. Schon nach drei Spatenstichen malten wir uns aus, was wir uns für den Reichtum kaufen würden, die anderen Matchbox-Autos und später Mopeds, ich Kartenspiele und Bücher, das Wurzelwerk der alten Bäume hinderte uns aber am Erfolg. Der Bande aus dem Oberdorf gefiel das gar nicht. Mehr als einmal überfielen sie uns, und an der Mauer, die den Park zur Betonstraße hin begrenzte, kam es zu regelrechten Schlachten mit dicken Knüppeln als Waffen. Die blauen Flecken, die wir dabei davontrugen, war uns die Sache „unseres“ Parks wert.

Als ich dann aufs Gymnasium kam, täglich mit der Bahn hin und zurück, neue Freunde lernte ich auch kennen, gingen unsere Wege auseinander. Eine höhere Bildung war nur für seinen älteren Bruder vorgesehen, Skilly sollte den Hof übernehmen und dafür reichten nach Ansicht seiner Eltern acht Jahre Volksschule. Manchmal spielten wir noch nachmittags Fußball auf dem Zwergschulhof, der zugleich Bolzplatz war, aber ich ging nicht so gern hin, weil ich fast immer als letzter gewählt wurde und Torwart oder ruhender Verteidiger spielen mußte, später gingen wir noch gemeinsam in den Konfirmandenunterricht und alle zwei Wochen, wenn Kindergottesdienst war, zwangsweise in die Kirche. Einige Zeit luden wir uns noch gegenseitig zu unseren Geburtstagen ein. Da tischten unsere Mütter Buttercremetorten, Frankfurter Kränze und Schokoladenkuchen auf, da waren sie gleich, wir tranken Kakao, erzählten uns die ewigen Witze über den Engländer Haven Stieven, den Norweger Laten Rinström und den Chinesen Link Ei Futsch, prusteten zum Zorn unserer Mütter dabei vor Lachen die Getränke auf die frisch gewaschenen und gestärkten weißen Tischtücher. Nach der Konfirmation hatte auch das ein Ende.

Erst im Kraftfutterwerk kreuzten sich unsere Wege wieder. Nach dem Studium hatte ich erst einmal genug vom intellektuellen Gehabe, von den Studenten, den revolutionären insbesondere, von denen es in Göttingen nur so wimmelte, und kehrte zurück an die Mittelweser, meinen Lebensunterhalt dort als Lagerarbeiter zu verdienen, Kraftfutter absacken, Säcke schleppen, Lastwagen beladen. Skilly arbeitete in der Produktion, Kraftfutter mischen und in die Silolastwagen abfüllen.

Den Hof hatte er übernommen, Vieh hatte er keines mehr, bewirtschaftete nur noch wenig Ackerfläche, entweder nach der Früh- oder vor der Spätschicht und an den Wochenenden. Die Kollegen sagten ihm Faulheit nach, er liege oft Tage oder Wochen mit den notwendigen Arbeiten zurück, bekomme die Saat nicht rechtzeitig in den Boden oder lasse das Korn auf dem Halm verderben.

So langsam Skilly mit dem Trecker war, so schnell war er mit dem Bierglas. „Wo man trinkt die Halben in zwei Zügen aus“, heißt es im Weserbogenlied, Skilly brauchte nur einen Zug, hatte die seltene Gabe, es einfach durch die Kehle laufen zu lassen. Als ich mit ihm im Sandkrug an der Theke saß und mit ihm anstieß, Doppelkorn gegen Herforder, hatte er sein großes Bier schneller gekippt als ich meinen Korn. Sein Rekord für den halben Liter soll soll handgestoppt unter drei Sekunden gelegen haben.

Nun, auf dem Betriebsfest im Grünen Jäger, hatte er mehr als einen halben Liter sturzgetrunken, war schwer angeheitert, ruderte auf den Knien hockend mit den Armen und sang aus Leibeskräften gegen die Kapelle an. Cord, Kollege aus dem Mix, an einer Allergie gescheiterter Automechaniker, tollkühner Fußballtorwart, Dostojewski-Kenner und Schachspieler, und ich sahen uns kurz an, dann durchzuckte uns die Erkenntnis fast gleichzeitig: „Ein Philosoph! Heinz ist ein Philosoph!“ – „Jawohl, ein Philosoph, und wir haben es all die Jahre nicht bemerkt!“ Wir standen auf und klatschten uns ab. „Da suchen wir bei Dostojewski und bei Kafka“, den las Cord auch, „und der, der alles wirklich blickt, tief blickt, ist die ganze Zeit mitten unter uns.“ – „Darauf müssen wir noch einen trinken. Unbedingt.“ Ich orderte eine Lage, Uwe und unsere Begleitungen schüttelten verständnislos ihre Köpfe. „Heinz, komm her und trink noch einen mit!“ Aber Skilly konnte uns nur noch blöde anschauen und kam nicht mehr hoch. Zu zweit schleppten wir ihn auf seinen Stuhl.

Mehr als ein Jahrzehnt nach meiner Zeit bei den Kraftfutterwerken, die inzwischen in Konkurs gegangen waren und alle entlassen hatten, sah ich ihn dann wieder, im Supermarkt kam er freudestrahlend auf mich zu, er sei jetzt auch verheiratet, mit einer sehr viel jüngeren Frau, und sie erwarteten ein Kind. Den Hof hatte er vollständig aufgegeben, alles Land verpachtet. Es war unsere letzte Begegnung.

Wiederum ein paar Jahre später stand es groß in der Zeitung und er war Tagesgespräch im Landkreis. Die Zollfahndung hatte nachts sein Gehöft durchsucht und mehrere Millionen unversteuerte Zigaretten gefunden. Er hatte seine Scheune an die falschen Leute vermietet.

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Der Mann mit der Hasenscharte

Zugig, unfreundlich leer, das schmutzig-kalte Licht ließ mich mitten im Sommer frösteln, ich stand in der Bahnhofshalle, studierte die Fugen und Kanten der grauen Treppenstufen, die hinunterführten in den Tunnel zu den drei Bahnsteigen, und wartete an diesem Sonntagabend, bewaffnet mit einigen Zeitungen und einem Stapel Flugblätter, die zum Roten Antikriegstag aufriefen, auf die Soldaten, die nach dem Wochenende wieder zurück mußten in die Kaserne nach Langendamm. Quietschende Bremsen eines anhaltenden Zuges, Lautsprecherdurchsage, es war der falsche Zug, der aus Bremen, der aus Hannover kam immer einige Minuten später: die Schritte eines einzigen Menschen hallten mir durch den langen Gang entgegen.

Ich kannte ihn flüchtig aus der Schulzeit, Klaus, wenn ich mich richtig entsinne, mit der Hasenscharte, seine Haare waren jetzt etwas länger, einen Bart hatte er sich auch stehen lassen. Er kam direkt auf mich zu: „Zeig her, Zapp“, dann zum Flugblatt: „Das ist gut.“ In der Schule war er mir nie aufgefallen, gehörte zu den strebsamen Braven und Angepaßten. Er kaufte mir sogar eine „Rote Fahne“ ab und, als ich ihn gleich noch für den Roten Antikriegstag in München gewinnen wollte, lud er mich überraschend ein, das Gespräch bei ihm zu Hause fortzusetzen. Da könnten wir uns in aller Ruhe „über die Revolution und so“ unterhalten. In drei Minuten, er blickte auf seine Uhr, fahre der letzte Bus nach Stolzenau, den wolle er unbedingt noch bekommen.

Ein paar Tage später war ich mit der neuen „Roten Fahne“ bei ihm. Er wohnte noch bei seinen Eltern, oben unter dem Dach. Er nahm mir die Zeitung ab, legte sie aber sofort achtlos beiseite: „Zuerst habe ich Marx gelesen. Langweilig, nichts für mich.“ Von den Blauen Bänden war auch keiner zu sehen. „Dann habe ich Lenin gelesen, Staat und Revolution“, er zeigte auf einen Band im Regal: „Da wußte ich, das ist es! Man muß den Staat zerschlagen, zerbrechen!“ Ich nickte und Klaus fing an zu singen: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Ich nickte begeistert. Das ist der Stoff aus dem Revolutionäre sind! Aber er war noch nicht fertig. Denn er hatte auch Trotzki gelesen: „Und da wußte ich, Trotzki war der Mann, er hatte Recht, und ich bin Trotzkist geworden.“ Das kühlte meine Begeisterung für den Mann mit der Hasenscharte ein wenig ab. „Aber jetzt nicht mehr.“ Denn nachdem er irgendeine Schrift von Stalin gelesen hatte, er verriet mir nicht, welche, war Stalin für ihn plötzlich der Größte.

Nun war er auf der Zielgerade angekommen. „Aber das hier“, und drückte mir eine Broschüre in die Hand, die bis dahin von mir unbemerkt auf dem Tisch gelegen hatte: „Wenn du das hier liest, Alter, dann weißt du, du mußt jetzt zur Waffe greifen.“ Er gestikulierte leidenschaftlich mit beiden Händen: „Sofort, Alter, und das Schweinesystem wegballern!“ Ein Stapel hektographierte Blätter, DIN A4, oben links mit zwei Heftklammern zusammengehalten, oben in der Mitte der fünfzackige Stern mit der Maschinenpistole, ein Zitat von Mao Tse Tung, eine Überschrift, etwas mit bewaffnetem Kampf und revolutionärer Theorie – ein Papier der RAF, eindeutig. Ich schwitzte innerlich, ich war gekommen, um ihm eine Zeitung zu verkaufen und eventuell als Sympathisanten zu gewinnen, jetzt sollte ich von ihm für den bewaffneten Kampf der RAF gewonnen werden, ausgerechnet.

Einige Monate zuvor, an einem der Ostertage, ich war noch beim Bund, hatte ich nach langer Zeit wieder einmal den Weg in den Jazz-Club gefunden, saß an der Theke, plauderte mit der Ex-Freundin, die an dem Abend gerade bediente und mich, von einem Augenzwinkern begleitet, mit einer Siebzehnjährigen bekannt machte, kräftig, drall und süß, zwei Hocker weiter. Ich rutschte neben sie, ich fand sie im Gespräch noch symathischer, flirtete, was das Zeug hielt, und als sie mich am Ende des Abends fragte, ob ich sie nach Hause fahren könne, nach Stöckse, war ich bereit und hoffte, daß da noch etwas mehr ging. Aber außer einer harmlosen kleinen Knutscherei spielte sich nichts ab, sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem Kuß auf die Wange, und als ich zu Hause ankam, bemerkte ich, daß mir das Portemonnaie mit allen Papieren fehlte.

Jeder andere hätte das sofort gemeldet, aber ich sah keine Veranlassung dazu: Um in die Jägerkaserne zu kommen, brauchte ich keine Papiere, das zivile Wachpersonal kannte mich, der San=Bereich achtete auf gute Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil mit den wirklich wichtigen Truppenteilen, Küche, Tankstelle, Wache, und versorgte die unter der Hand mit gängigen Medikamenten, Hämorrhoidensalbe, Autan, Valium, Schmerzmittel, einen Ausweis hatte ich schon lange nicht mehr vorzeigen müssen. Ich ließ mir fast zwei Monate Zeit für die Meldung. In diesen Wochen aber scheuchte die RAF mit den Bombenanschlägen ihrer Mai-Offensive alle auf; zuerst auf das Hauptquartier des V. Korps der US-Armee in Frankfurt: ein Toter, 13 Verletzte; dann Polizeidirektion Augsburg: 7 Verletzte; LKA München: 10 Verletzte; Auto-Attentat auf Richter Buddenburg: eine Verletzte; Springer-Verlagsgebäude in Hamburg: 15 Verletzte; Hauptquartier der 7. US-Armee in Heidelberg: 3 Tote. Überall hingen die Fahndungsplakate aus.

Fahndungsplakat 1972

Fahndungsplakat 1972

Mit Zungenspitzen-R geradebrecht: „Geworfen Bombe über Zaun, explodieren eine Stunde.“ Mit diesem nächtlichen Anruf aus einer Bierlaune heraus hatte ich die Jägerkaserne zusätzlich alarmiert. Der Kommandeur wurde aus dem Bett hochgescheucht, warf nur eine Uniformjacke über seinen Pyjama und gab in Hausschuhen, den Schäferhund an der kurzen Leine, Befehle, die zur Straße liegende Hälfte des San=Bereichs wurde hastig evakuiert, drei Patienten umgebettet, der Streifen am Zaun entlang abgesucht – und nichts gefunden.

In dieser angeheizten Stimmung meldete ich den Verlust meiner Papiere. Von meiner Geschichte glaubte man kein Wort, ich mußte beim Kompanieführer antreten, der mich sofort beschuldigte, ich habe meine Papiere an die RAF „veräußert“, man wisse, daß ich „diesen Kreisen“ nahestehe, ich solle besser alles sofort zugeben, ansonsten müsse man mich an den MAD übergeben. „Ob Sie bei denen fünf Tage Verhör überstehen“, er wiegte den Kopf langsam bedenkend hin und her: „Ich glaube eher nicht.“ Ich gab natürlich nichts zu, da hatte ich ein reines Gewissen, fürchtete aber doch, mein anonymer Anruf könne ans Tageslicht kommen und mir zum Verhängnis werden, ich wußte nicht, wie groß der Kreis der Mitwisser inzwischen war. Ob man mir am Ende glaubte oder nicht, weiß ich nicht, jedenfalls wurde ich nicht vom MAD verhört und bekam Ersatzpapiere ausgestellt.

Andreas Baader, Holger Meins, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Brigitte Mohnhaupt, Siegfried Hausner, Klaus Jünschke, Irmgard Möller, die gesamte Führungsriege der RAF hatte man inzwischen gefaßt, ich war bei der Bundeswehr entlassen und arbeitete auf dem Bau, hockte an diesem Abend an dem niedrigen Tisch mit einer heißen Erklärung der RAF in den Händen und der Furcht im Nacken, man könne mich damit erwischen und das zum Anlaß nehmen, unsere KPD/ML (eine von neun verschiedenen, die es damals gab, der Kampf gegeneinander um kleinste Abweichungen der „Linie“ im „Leben des Brian“ bestens karikiert) zu verbieten. Beobachtet und bespitzelt wurden wir, das hatte ich nach einem Besuch bei alten Bekannten erlebt, die bei der Konkurrenz der „A Null“ gelandet waren, als ich auf dem Heimweg von zwei Gestalten, die auf der anderen Straßenseite gewartet hatten, auffällig unauffällig verfolgt wurde, bis ich sie nach einer halben Stunde endlich abhängen konnte.

Wegen der Verbotsdrohung verhielten wir uns teilweise schon lächerlich konspirativ, kannten uns zum größten Teil nur unter Decknamen und redeten am Telefon nicht offen, mit der RAF in Verbindung gebracht zu werden, das wäre in unseren Augen das sichere Ende der Partei gewesen. „Das Proletariat muß los, morgen wieder malochen“, verabschiedete ich mich deshalb schnell, das RAF-Papier leuchtete verdächtig auf dem Beifahrersitz, ich hielt am nächsten Papierkorb, schaute nach allen Seiten und entsorgte dieses Pamphlet hastig, ein zeitgeschichtliches Dokument, deshalb bedaure ich das heute, schaute noch in den Rückspiegel, ob es nicht jemand womöglich noch herausholte.

Besucht habe ich ihn nicht wieder, aber am zweiten Septemberwochenende fuhr ich nach Hannover zum Altstadtfest und da sah ich den Mann mit der Hasenscharte noch einmal, auf der Wiese am Leineufer gegenüber vor der Bühne, auf der Heino & Knochen „Johnny, komm, wir fressen eine Leiche“ sangen, saß er im Kreis mit einigen Leuten aus der Kornstraße und von der „883 [acht acht drei] Hannover“, die einen Joint herumgehen ließen, hob kurz den Kopf und sah in meine Richtung, als wir uns gegenseitig bemerkten.

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Monsieur Le Taschentuch

Monsieur Le Taschentuch, so tauften wir den einen der beiden französischen Studenten, die in ihren Ferien bei Telefunken in Empelde in der Halle 52 arbeiteten, die Nächte auf einem Campingplatz in Hannover fröhlich feiernd durchlebten, tagsüber den Schlaf, von uns fürsorglichen Kollegen in einer Höhle aus PALcolor-Kartons versteckt, nachholten, Monsieur Le Taschentuch deshalb, weil er sich, um sein Geschlecht zu betonen, stets zwei, drei Stofftaschentücher vorne in die Hose stopfte.

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Leichen pflastern seinen Weg

Woher wir den 16-mm-Projektor hatten, ich habe es vergessen, zur Einrichtung des Bunkers gehörte er jedenfalls nicht, und zu unserem eigenen Agitationsmaterial auch nicht, obwohl wir gut ausgestattet waren, von roten Transparenten über Stelltafeln bis zu einem Hektographiergerät, das mit Druckerschwärze arbeitete und nicht mit Spirit-Carbon-Matritzen. Wahrscheinlich hatte ihn eine der beiden Genossinnen besorgt, Schwestern, die den Sommer im Land Enver Hoxhas verbracht hatten, und deren Augen immer noch leuchteten, aber nicht aus Begeisterung für den dortigen Sozialismus, sondern für die albanischen jungen Männer, die sie dort näher kennengelernt hatten.

Den Film hatte ich besorgt, „Leichen pflastern seinen Weg“, Klaus Kinski und Jean-Louis Trintignant als Gegenspieler, aus dem Angebot des Atlas-Filmverleihs, ich war in der Zeitschrift Filmkritik darauf gestoßen, die ich damals noch abonniert hatte. Geliefert wurde per Bahnfracht, drei schwere Rollen, die nach drei Tagen wieder zurück mußten.

Es sollte eine Veranstaltung gegen Militarisierung und wachsende Kriegsgefahr werden, wir selbst waren noch heiß nach der Niederlage, die wir am Roten Antikriegstag in München gegen knüppelnde Polizei einstecken mußten, Langendamm, Heimat einer Panzerbrigade und eines Artilleriebataillons, dazu das 32nd US-Army Field Artillery Detachments, das für die Bewachung der Atomsprengköpfe, Atomminen und Atomgranaten im Munitionslager Liebenau zuständig war, einen Kilometer entfernt das Engineer-Regiment der britischen Rheinarmee in der Mudra-Kaserne, Langendamm, dieses militärverseuchte Dorf, die Eingemeindung kam erst zwei Jahre später, fanden wir, war überreif für eine solche Veranstaltung, und der alte Munitionsbunker auf dem ehemaligen Muna-Gelände, den sich Jugendliche als Freizeitraum eingerichtet hatten, der beste Ort dafür.

Munitionsbunker

In einem solchen alten Munitionsbunker hatten sich die Jugendlichen einen Freizeitraum eingerichtet.

Gekommen waren fast dreißig Leute, sechs von unserer Zelle, drei Kader aus Hannover, eine Handvoll Sympathisanten, die mit uns in München waren, der Rest Jugendliche aus dem Ort, Lehrlinge vor allem, die in erster Linie den Film sehen wollten.

In „Leichen pflastern seinen Weg“, das unterscheidet ihn von anderen Western, triumphiert am Ende das Böse in Gestalt der Kopfgeldjäger, die im Auftrag des Kaufmanns und Friedensrichters die Hungernden, die aus Not stehlen, jagen und am Ende niedermetzeln, dann beruht dieses Ende auch noch auf historischen Tatsachen: nach der letzten Rolle war die Dorfjugend voller Empörung über eine Staatsgewalt, die nur für die Reichen handelt. Mein Vortrag im Anschluß, zusammengeschustert aus verschiedenen Artikeln aus dem John-Schehr-Kurier und der Roten Fahne, die ich auseinandergeschnippelt und auf zwei Blatt DIN A4 neu zusammengesetzt hatte, mußte nur noch ein klein wenig nachhelfen, den Unmut in eine revolutionäre Richtung lenken, weshalb ich einige Passagen, die mir plötzlich allzu papiern erschienen, einfach wegließ.

In der Diskussion ereiferte sich plötzlich ein 17-jähriger Lehrling und zog gegen die Jusos vom Leder, aus dem Nichts, die seien nur dazu da, unseren Zorn einzufangen, von wirksamen Aktionen gegen die Herrschenden abzubringen und versickern zu lassen. Wir klatschten rasend Beifall, das war die Droge, die wir brauchten, befanden uns für einige Minuten in dem Wahn, mit einer solchen Jugend seien wir nur noch wenige Zentimeter entfernt von der Revolution, zumal alle weiteren Beiträge in diese Kerbe hieben. Wir wissen, es kam alles anders, aber zumindest diese eine Runde, wenige Wochen vor den Bundestagswahlen 1972, ging an uns. Sechs der Jugendlichen aus dem Dorf kamen eine Woche später zu einer „Aktionsgruppe“, die wir an diesem Abend noch geistesgegenwärtig gegründet hatten, blieben aber nach und nach wieder weg, weil wir statt der versprochenen Aktionen gegen die „Schweine“ doch nur das gemeinsame Studium von „Lohn, Preis und Profit“ boten.

Auch die drei anwesenden Kader waren von meiner Vorstellung angetan, ich solle doch nach Hannover kommen, die Führung des Jugendverbandes übernehmen. Dem Ruf bin ich gefolgt, aber aus der Karriere wurde dann doch nichts, weil wir schon ein halbes Jahr später beschlossen, die ganze Partei als gescheitert aufzulösen und in den Mülleimer der Geschichte zu entsorgen.

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Ein Duell

„Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.“ San=Bereich der Jägerkaserne Bückeburg: Wir waren im Dienstzimmer des Hauptfeldwebels angetreten, stramm ausgerichtet in einer Reihe, Hände an der Hosennaht, der Kommandeur nahm den unangekündigte Haarappell persönlich ab, spazierte mit hinten verschränkten Händen in unserem Rücken und beäugte peinlich genau Hinterkopf für Hinterkopf.

Stuffz B. mußte es bezeugen: bei Hauptfeldwebel M. hing ein einsames Haar drei oder vier Millimeter über den Hemdkragen. „Sie sollen doch Vorbild sein als Vorgesetzter, Hauptfeldwebel“, donnernd und schneidend zugleich: „Melden Sie sich bis spätestens drei bei mir mit einem vorschriftsmäßigen Haarschnitt.“

Ausgerechnet Hauptfeldwebel M., dieses Muster an Angepaßtheit, der sein inneres Gleichgewicht und seine fast debil anmutende Freundlichkeit, mit der er Vorgesetzten wie Untergebenen begegnete, regelmäßigen Libriumgaben verdankte. Als er mich einmal wegen einer Krankenwagenfahrt, am Freitagnachmittag zum Bierholen für die Unteroffiziere zur Schaumburger Brauerei nach Stadthagen, angeblich unter Einfluß bewußtseinserweiternder Drogen, zu sich zitieren und zur Rede stellen mußte, genügte: „Das können Sie doch mit mir nicht machen“, um ihn einknicken und lächelnd bei mir entschuldigen zu lassen.

Ums Haar, genauer: um die Haarlänge ging es bei diesem Duell von Anfang an, der Hauptfeldwebel war aber nicht der eigentliche Gegner, das war der wehrpflichtige Stabsarzt, und der mußte nicht zu diesem Appell antreten, sondern saß nebenan im Sprechzimmer und feixte. Sofort mit seinem Dienstantritt in der Jägerkaserne hatte er sich mit dem Kommandeur angelegt, weigerte sich wie 1967 in Neuburg der Panzergrenadier Albrecht Schmeißer (später im Bundesvorstand der Grünen) unter Berufung auf seiner Grundrechte, sein Haar auf die befohlene Kürze zu stutzen. Auch das Tragen eines Haarnetzes beeinträchtige seine Menschenwürde, der Haarnetz-Erlaß schreibe es auch nur vor,  wenn das lange Haar den Soldaten bei seinen Aufgaben behindere, das sei bei seiner Tätigkeit als Arzt nicht der Fall. Der Krieg wurde schriftlich geführt mit Widersprüchen und seitenlangen Anwaltsschreiben, anders als Hauptmann Fellhauer im Fall Schmeißer schreckte der Kommandeur am Ende vor einer Strafanzeige wegen Gehorsamsverweigerung zurück und verbot dem Stabsarzt nur das Tragen der Uniform, solange er sein Haar nicht auf die gebotene Kürze brachte oder ein Haarnetz trug.

Diesen Befehl befolgte der Stabsarzt und versah seinen Dienst von nun an in Zivil: weinrote Lederjacke, Jeans, hohe Stiefel, das dunkle leicht gewellte Haar über den Kragen fließend, so stieg er jeden Tag aus seinem weißen 300 SL Roadster, grüßte freundlich winkend mit einem leicht spöttischen Lächeln vom Parkplatz zum Kommandeursgebäude hinüber, tauschte drinnen die Lederjacke mit dem Arztkittel, zunächst nach oben in die Teeküche, dort hatte die Schwester, Zivilpersonal gab es auch, die ihn (oder seinen 300 SL?) anhimmelte, schon einen Kaffee aufgebrüht, der wurde in aller Gemütsruhe getrunken, dann erst wieder nach unten zu den Patienten, deren Ungeduld wir bis dahin zu zügeln hatten.

Die Unteroffiziere, die in der Jägerkaserne zu Feldwebeln ausgebildet wurden – und auf dem Flur, auf dem wir Sanitätssoldaten schliefen, sämtliche Revierdienste übernehmen mußten, das gefiel uns besonders – diese Unteroffiziere und die angehenden Hubschrauberpiloten, die sich hier die Theorie und die notwendigen Englischkenntnisse aneignen mußten und oft genug kurz davor standen, durchzufallen, hatten es immer eilig, bettelten manchmal, vorgezogen zu werden, den Mannschaftsdienstgraden dauerte das Warten meist nicht lange genug und sie hatten selten etwas dagegen, sich die Zeit bis zum Mittagessen im San=Bereich zu vertreiben.

Ernsthafte Erkrankungen gab es selten, meist Erkältungen oder Blasen, hin und wieder simulierte jemand, den unterzog der Stabsarzt einer bizarren Untersuchung. Er mußte sich auf das linke Bein stellen, den rechten Fuß hinter die linke Kniekehle, mit der rechten Hand über den Kopf ans linke Ohr, gleichzeitig mit der linken Hand an die linke Wade fassen, sagen, an welcher Stelle es jetzt besonders schmerze. Wer sich dieser Übung demütig unterwarf und eine medizinisch unmögliche Antwort gab, dem verordnete der Stabsarzt Bettruhe bis zum Wochenende und freute sich diebisch, der Bundeswehr wieder einmal eins ausgewischt zu haben. War ihm aber jemand unsympathisch oder ein höherer Dienstgrad, dann ließ er den sofort mit einer erfundenen Diagnose auf die Station (10 Betten, davon höchstens zwei belegt) einweisen, mindestens eine Woche und über ein Wochenende, damit er nicht nach Hause konnte und sich bei uns langweilen mußte.

Montags war das Wartezimmer immer rammelvoll, am Freitag gähnend leer. An einem Montag reichten die Stühle nicht. Allein 20 Soldaten wollten zum Zahnarzt, auch ein Wehrpflichtiger, ein Fall wie unser Stabsarzt, nur überzeugter Kurzhaarträger, ungewöhnlich, normalerweise hatte er nur vier oder fünf Behandlungen am Tag. Zwanzig, das paßte ihm überhaupt nicht, nicht für die lumpigen 14 Mark Wehrsold am Tag, er ging hinüber zum Stabsarzt, kurze Lagebesprechung. Ich mußte eine Flasche Ketchup aus der Teeküche besorgen, der Sanitätsgefreite Morche wurde wegen seines geringen Gewichts auserkoren, als erster Zahnpatient aufgerufen. Der Bohrer wurde hörbar angeworfen, Morche schrie wie am Spieß, der Zahnarzt stürzte hinaus auf den Flur: „Sanitäter, Trage, Trage, aber schnell! Schnell!!“ Jesse und ich kamen gelaufen, aber erst, als der Zahnarzt uns noch einmal überlaut zur Eile ermahnte. Morche legte sich auf die Trage, ich goß ihm reichlich Ketchup über Mund und Wange, dann rannten wir los, an den erschreckten Wartenden vorbei, Morche spuckte ein wenig von der roten Flüssigkeit aus und blubberte: „Mörder, die wollen mich hier umbringen.“ Ein wenig übertrieben, fand ich, aber es wirkte: Als wir zurückkamen, saßen nur noch drei Zahnpatienten im Wartezimmer, die anderen hatten sich eilends Überweisungen an Zahnärzte in der Stadt ausstellen lassen. Unser Zahnarzt hatte seine Ruhe, die Bundeswehr zusätzliche Kosten.

Gemeinsam waren der Stabsarzt und der Zahnarzt unausstehlich. Besonders gern gingen sie im Offizierskasino auf die Nerven, benahmen sich daneben, pöbelten herum, wollten mit jedermann Bruderschaft trinken. Sie herauszuwerfen traute man sich nicht, besonders, nachdem sie eine schriftliche Belobigung vom Kommandeur erhalten hatten, für ihre Geistesgegenwart: sie hatten Zeitungspapier locker zusammengeknüllt, ins Klavier gesteckt, in einem unbeobachteten Moment angezündet, „Feuer!“ gerufen, den Feuerlöscher von der Wand gerissen, ihn komplett ins Klavier entleert, sich als Helden und Retter feiern und einige Runden ausgeben lassen.

Am zweiten Weihnachtstag wollte sich einer der Offiziere bei uns und vor allem beim Stabsarzt besonders unbeliebt machen. Am frühen Nachmittag saßen wir gemütlich herum, nichts zu tun, alle Betten leer, im Fernseher lief gerade die Wiederholung einer alten Beat-Club-Sendung, die Bonzo Dog Doo-Dah Band, „Trouser Press“ in Schlafanzügen, dieser Offizier, ein Oberleutnant, scheuchte uns auf, wollte unbedingt den Arzt sprechen, nein, was er habe, könne er unmöglich uns sagen, nur dem Arzt, Zeit bis morgen habe sein gesundheitliches Problem auch nicht. Der Stabsarzt hatte zwar Dienst wie wir, aber nur Bereitschaft, wir mußte ihn anrufen. Er war ziemlich ungehalten, in unserem Beisein am Telefon wollte der Oberleutnant auch nicht mit seinem Problem herausrücken, er habe das Recht, vom Arzt behandelt zu werden. Der Stabsarzt weigerte sich, selbst zu fahren, ich mußte ihn mit dem Ford Transit aus Stadthagen abholen.

„Den lassen wir eine Weile schmoren.“ Er bot mir einen Tee mit Rum an, führte mir ausführlich seine Anlage mit einem nagelneuen ReVox A 77 MK III als Herzstück vor, erzählte von seiner Studienzeit in München, von dem Kino, in dem an jedem Nachmittag ein Eddie-Constantine-Film lief, in das sie sich mit einem Kasten Bier setzten und zu Eddies Faustschlägen die Flaschen klacken ließen, wir brachen erst nach 50 Minuten auf. Ehe der Weihnachtspatient sich über die Verspätung beschweren konnte, franzte er ihn, weil er uns bei diesen Straßenverhältnissen zu dieser Fahrt gezwungen habe.

Nach einer Viertelstunde eilte der Oberleutnant wieder aus dem Sprechzimmer, unhöflich ohne Gruß an uns vorbei. Der Stabsarzt wollte sich ausschütten vor Lachen und erzählte uns brühwarm, was der Herr unbedingt vor uns verschweigen wollte: seine Frau habe ihn zu uns geschickt, nach der Weihnachtsvöllerei habe er es im Bett nicht mehr gebracht. „Überfressen, sonst nicht.“ Er habe ihm Vitamin E gegeben: „Das wirkt auf jeden Fall. Der Mann ist sonst normal potent, damit ist er so spitz, daß er drei Tage nicht mehr von der Frau runterkommt.“ Wir wollten es gerne glauben.

Im Frühjahr, kurz vor seiner Entlassung, holte unser Stabsarzt dann zum entscheidenden Schlag gegen den Kommandeur aus. Hygieneinspektion, das gehörte zwar, zu den Aufgaben der Ärzte, war aber bis dahin mehr als vernachlässigt worden: Gemeinschaftsräume, Offizierskasino, Kantine, Küche, immer in Begleitung des Kommandeurs, zum Schluß der Knast, das eigentliche Ziel. „Unhaltbare Zustände, das kann ich nicht verantworten, daß hier noch jemand auch nur eine Minute einsitzt.“ Die beiden Gefangenen seien woanders unterzubringen, der Knast auf der Stelle zu schließen, gründlich zu reinigen und zu desinfizieren, und könne erst nach nochmaliger Überprüfung wieder belegt werden. Dagegen war der Kommandeur bei aller militärischer Befehlsgewalt machtlos, was gesundheitsgefährdend war und was nicht, bestimmte in diesem Fall unser Stabsarzt. Da half auch die Intervention beim Oberstabsarzt nicht.

Ein neuer Haarerlaß hatte das Haarnetz inzwischen wieder abgeschafft, die Haarlänge war jetzt genau festgelegt, das Kopfhaar durfte weder Uniform noch Hemdkragen berühren. Mit dem Haarappell im Dienstzimmer des Hauptfeldwebels wollte der Kommandeur diese Bestimmungen durchsetzen und einen Konter gegen die Knastschließung setzen. Der Stabsarzt war aber nicht betroffen, weil er gerade wegen seiner Haarlänge keine Uniform tragen durfte, und so wurde diese Aktion von uns als wütendes und hilfloses Eingeständnis der Niederlage aufgefaßt – als sei’s aus einem Film mit Louis de Funès.

Der Stabsarzt riet dem Hauptfeldwebel, nicht zum Kasernenfriseur, „diesem Pfuscher“, zu gehen, holte eine Schere aus dem Behandlungszimmer und schnitt das vorwitzige Haar eigenhändig ab.

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