Ein Nachhilfelehrer

It’s gonna be a thrilla
and a chilla
when I get the gorilla
in Manila.

„Laß uns die Abkürzung nehmen.“ Wir kamen vom Studentenwohnheim im Albrecht-Thaer-Weg, wo meine Freundin Sabine damals in einer WG mit zwei Waldorfschülern aus Worpswede lebte, und wollten hinüber zum Klausberg, Clemens und ich, zu seinem ehemaligen Griechisch-Nachhilfelehrer, bei dem könnten wir uns nicht nur die nächtliche Fernsehübertragung des „Thrilla in Manila“ zwischen Ali und Frazier anschauen, wir bekämen dort auch zu trinken, was unser Herz begehrt, und mehr als wir vertrügen. „Wenn wir ihn noch länger warten lassen, geht er vielleicht schon ins Bett.“ So kletterten wir die Böschung am Nikolausberger Weg hoch, dort, wo er sich zu einer für den eiligen Autofahrer gefährlichen hohlen Gasse verengt, unheimlich dunkel zu dieser nachtschlafenen Zeit.

HT, Mitte dreißig damals, ewiger Student der Altphilologie, der sich immer noch einschrieb, um an den Studentenausweis und die Vergünstigungen zu kommen, seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Nachhilfeunterricht in Latein und Griechisch, hauptsächlich für die Schüler des altsprachlichen Max-Planck-Gymnasiums. „Setzt euch.“ Wie ein Blick auf die Inneneinrichtung zeigte, ging es ihm dabei nicht schlecht.

„Was wollt ihr trinken?“ Er öffnete die Schrankwand in meinem Rücken. „Ich habe alles da.“ Das war nicht gelogen. Auf drei Meter Breite stand in vier Etagen, was das Herz des harten Trinkers begehrt: Whisky, Cognac, Rum, Obst- und andere Brände und Schnäpse neben edlen Likören und Magenbittern, immer Dutzende von Marken und Sorten. Verwirrt und erschlagen von der Vielfalt fiel mir nichts anderes ein als Chivas Regal, den kannte ich aus dem Scandia Club, mit Apfelkorn mochte ich ihm nicht kommen, von den Single Malts, auf die er als Alternative hinwies, „wenn es denn ein Whisky sein soll“, hatte ich keine Ahnung, ich blieb dabei. Während ich mir eine Drum drehte, stellte mir HT die ganze Flasche und ein Glas auf den Tisch, für sich einen Cognac, Clemens kannte sich aus und holte sich ein Urquell aus dem Kühlschrank.

Nach dem ersten Glas und der ersten Zigarette wurde der Fernseher angestellt. Am Anfang war Ali noch schnell auf den Beinen, beherrschte den Kampf: wir tranken und rauchten locker in der Hoffnung auf ein vorzeitiges Ende. Dann hing er fast nur noch in den Seilen, kassierte Treffer um Treffer: wir tranken und rauchten angespannt, weil wir Schlimmes befürchteten. Der Kampf steigerte sich zur Schlacht: wir tranken und rauchten aus Mitleid mit beiden Boxern. In der 13. und 14. Runde wurde es fürchterlich für Frazier, Ali traf ihn wieder und wieder am Kopf, Frazier wankte, aber fiel nicht: wir vergaßen zu trinken und zu rauchen.

In der 15. Runde trat Frazier nicht mehr an. Die Flasche Chivas Regal war noch halb voll, aber ich hatte schon genug und schwankte. Clemens verabschiedete sich in eine andere Richtung und ich mußte den Rückweg in der Dunkelheit allein finden. Als ich oben am Hohlweg ankam, lief ich in einige Büsche hinein, Gesichts- und Körpertreffer, und im Gegensatz zu Frazier fiel ich und kullerte den Abhang hinunter. Betrunken, zerkratzt, zerschunden, verdreckt und mit unordentlicher Kleidung, als hätte ich selbst gekämpft und nicht nur ferngesehen, klingelte ich dann sehr viel später bei Sabine.

There will be no Pearl Harbour!
Muhammad Ali has returned!
There will be no Pearl Harbour!

Nach zwei weiteren Titelverteidigungen, die mich nicht interessierten, trat Ali dann Ende Juni 1976 für sechs Millionen Dollar in einem Schaukampf gegen den „Pelikan“ an, die japanische Wrestling-Legende, Catcher, wie wir damals sagten, Antonio Inoki, Weltmeister in fünf Kampfsportarten. Kenner, wie der Kickbox-Meister Georg F. Brückner oder der Judo-Olympiasieger Anton Geesink, befürchteten Lebensgefahr, sollten beide ernsthaft kämpfen: „Wenn der den Clay zu fassen kriegt, sehe ich schwarz und wenn Clay trifft, umgekehrt.“

Das wollten wir uns nicht entgehen lassen und machten uns noch einmal zu einer Fernsehnacht bei HT auf, diesmal zu viert, denn Ute und Sabine kamen mit, um auf Clemens und mich aufzupassen. Ich entschied mich für Armagnac, hielt mich aber sehr zurück, die beiden Aufpasserinnen für Persico, Clemens wieder für Urquell, der Gastgeber trank ziemlich viel ziemlich durcheinander.

Weil niemand der beiden ein Risiko eingehen wollte, war der Kampf nach nur für diese Begegnung ausgehandelten Regeln eine einzige Enttäuschung. Inoki lag die meiste Zeit auf dem Rücken und trat nach Alis Beinen, Ali umkreiste ihn mehr oder minder ratlos tänzelnd. Das war alles. Nach fünfzehn Runden wurde der Kampf unentschieden gewertet. Inoki lag zwar drei Punkte vorn, die wurden ihm aber aberkannt, da angeblich durch Foul errungen. Das Publikum zeterte Betrug und wollte sein Geld zurück.

Wir waren schon nach den ersten beiden Runden gelangweilt, sahen nicht mehr hin und interessierten uns nur noch füreinander. Sabine und ich saßen nebeneinander auf dem Sofa, nippten an unseren Getränken, rauchten, schauten uns hin und wieder amüsiert an, die drei gegenüber teilten sich einen Sessel. Ute saß bei Clemens auf dem Schoß, der langte mit der Rechten in ihren Ausschnitt, fummelte sich unter den BH, die beiden knutschten immer heftiger. HT hockte derweil den beiden zu Füßen, sah mit großen Augen hinauf, umklammerte Clemens‘ Bein, streichelte und küßte es, hing schließlich wie ein Hund an seinem Knie und begann, vor Begierde elektrisch zu zucken. Sabine und ich prosteten uns zu.

Clemens versuchte, HT abzuschütteln, doch das steigerte dessen Begehr noch und stachelte ihn zu noch wilderen Zuckungen an. Plötzlich war ihm übel, er hockte auf allen Vieren und versuchte, sich zu übergeben. „Der muß ins Bett, ehe es noch schlimmer wird“, entschied Clemens. Mit dem wäre HT freilich gerne mitgegangen, vielleicht auch mit mir, Sabine aber, die ihm auf- und erst ins Bad, dann ins Bett half, während Ute und Clemens sich weiter im Sessel vergnügten und ich die Szene wohlgefällig betrachtete, biß er dabei nur in den Finger.

Für den Rückweg nahmen wir in dieser Nacht nicht die Abkürzung durchs Gebüsch, sodaß der Zahnabdruck an Sabines Zeigefinger die einzige Blessur in dieser Nacht bleiben sollte.

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Ein Buchhändler

Seume? Spaziergang? Warten Sie … das müßte … hier … warten Sie … das haben wir gleich.

Barry und ich schauten uns fragend an, als der alte Mann zielgerichtet zu einem der Stapel schlurfte, in denen sich die Bücher an der Wand rechts hinter der Kasse in Doppelreihen türmten. Diese Buchhandlung und dieser Buchhändler schienen aus einer anderen Welt als der uns bis dahin bekannten.

Schulbücher und auch meine Karl-May-Bände, ich konnte mir nur die billigen Ueberreuter-Taschenbuchausgaben leisten, besorgte ich mir bei Hanna Vorschulte, auch in der Jahnstraße, nur wenige Schritte entfernt im Haus der Mosterei Uhlenhoff, anspruchsvollere Literatur lieh ich in der Stadtbibliothek aus. Zwei Bände pro Quartal kamen vom Jugendlesering dazu, das bezahlte mein Vater, einzige Auflage, es durften keine ausgesprochenen Kinder- oder Jugendbücher sein, die hätte ich vom Taschengeld abzwacken müssen, nur etwas „Vernünftiges“ mit Biß, was er selbst auch lesen mochte, also Kipling, Hemingway, Bergengruen, Jules Verne.

Sehr selten, und das sollte auch über die Jahrzehnte so bleiben, kaufte ich etwas bei Leseberg, dem größten Buchhändler der Stadt. Jack Kerouacs „Unterwegs“ allerdings hatten sich Barry und ich dort besorgt, und jetzt waren wir auf den Geschmack gekommen und wollten den Trip in die Vergangenheit fortsetzen, zu den Wurzeln solcher Lebensart, zu Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Am ehesten, verriet uns Rudolf, der uns auch auf die Fährte von Kerouac gesetzt hatte, kenne noch der alte Ulrich dieses Werk und habe es vielleicht sogar auf Lager. So standen wir nun in seiner Buchhandlung und wunderten uns.

Heinz Ulrich Buchhandlung Antiquariat Anzeige im Strebergarten

Und diesem Mann waren nicht nur Seume und sein Spaziergang ein Begriff, er hatte ihn sogar auf Lager, und – zu unserer größten Verblüffung – fand ihn in dieser rätselhaften Ordnung der vom Boden fast mannshoch aufgetürmten Bücherstapel auf Anhieb.

Seume … Spaziergang … warten Sie … das haben wir gleich … ja, hier … aber nur noch einmal.

Er zog das dritte Buch von unten so geschickt aus einem der hinteren Stapel, daß der Turm kaum wankte. Ich ließ Barry den Vortritt und bestellte für mich ein weiteres Exemplar. Als ich es abholte, hatte Barry seinen Spaziergang schon verschlungen und kam mit, um nach den „Apokryphen“ zu fragen. „Warum sagen Sie das nicht gleich, die habe ich doch auch da“, und zog sie aus einem anderen Stapel.

Als man mir weder im Kiosk in der Markthalle noch in der Bahnhofsbuchhandlung die „Star Club News“ besorgen konnte, versuchte ich es wieder bei Heinz Ulrich. Für ihn war es kein Problem und so holte ich mir von da an jeden Monat ein druckfrisches Exemplars dieses Musikmagazins bei ihm ab, aber nicht lange, denn die „Star Club News“ gab es bald nicht mehr, sie gingen in der „Sounds“ auf. Schnell war Heinz Ulrich mein Lieferant für alles, was regelmäßig erschien und mir lieb und teuer war: Enno Patalas‘ „Filmkritik“ bezog ich über ihn, ebenso wie die Spectaculum-Bände mit den angesagten Theaterstücken der Saison und Wagenbachs Tintenfisch. Ich hatte die Bände immer sofort nach Erscheinen in der Hand, mußte aber, da der alte Ulrich Buchhändler von Berufung, aber kein Geschäftsmann war, und er ein Herz für arme literaturbegeisterte Schüler hatte, nicht ebenso prompt bezahlen, wobei ich ihn  so manches Mal auf eine lange Geduldsprobe stellte.

Als ich dann nach einem Jahrzehnt, in dem ich selbst „unterwegs“ war und in verschiedenartiges Leben eintauchte, wieder zurück an die Weser kam, gab es diese beste aller Buchhandlungen leider nicht mehr lange. Die Jahnstraße wurde zur Fußgängerzone, der Vermieter wollte mehr herausschlagen, als der inzwischen greise Heinz Ulrich zahlen konnte, ihm wurde gekündigt und er mußte, obwohl dieses Gebaren in der Lokalpresse als Unrecht angeprangert wurde, aufgeben. Ein Samengeschäft zog ein. Dort, wo sich vorher die Bücher gestapelt hatten, wurden nun Rasenkantenscheren und Guanodünger verkauft. Inzwischen mußte auch dieser Laden einem ordinären Schuhgeschäft weichen.

Das Haus Jahnstraße Ecke Hakenstraße jetzt

Am schlimmsten aber ist, wie ich bei meinem letzten Besuch an der Weser feststellen mußte, daß es jetzt keinen einzigen Buchhändler mehr in der Stadt gibt, nicht mehr Lutger, der in den eineinhalb Jahrzehnten, in denen ich sein Kunde war, stets eher als ich wußte, mit welchem Buch in der Hand ich seine Bücherbutze verlassen würde, und auch Leseberg als einst größten Buchhändler nicht mehr, nur noch eine Weltbild-Filiale.

 

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Zwei Lokale

Unten war die Tilly-Klause: viel dunkles Holz, tief hängende Lampen, Zigarettenqualm, Remmer. Das tranken wir und sangen dazu unser Lied:

Remmerbier, Remmerbier trink ich gerne,
Remmerbier, Remmerbier hat keine Kerne,
Remmerbier, Remmerbier, das fließt munter
unsre Kehle rauf und runter.

Wir rauchten Gauloises, Roth-Händle oder Pfeife – natürlich nur mit Tabaken, die uns Moppel aus England mitbrachte – und gründeten eines Tages, als wir zufällig zu viert waren, den Remmer-Club. Abzeichen und intellektuelles Feigenblatt war das Pardon-Teufelchen, das mußte in jeder Lebenslage verdeckt getragen werden. Wer den Button einmal vergessen hatte oder ihn offen trug, zahlte als Strafe fünfzig Pfennig in die Clubkasse. Eine Erweiterung der Mitgliederzahl war nicht vorgesehen, wir wollten exklusiv bleiben, aber Andreas, bei der Gründung nur zufällig nicht dabei, drängte auf offizielle Aufnahme. „Zur Abschreckung“, so Moppel, „damit das nicht einreißt“, wurde eine Aufnahmeprüfung ausgeheckt.

Wir fuhren zum Heiratsmarkt nach Bruchhausen-Vilsen, der nächste Ort, an dem es Remmer gab, der arme Andreas mußte fünf halbe Liter von diesem Stoff trinken und anschließend Achterbahn fahren, ohne ihn wieder von sich zu geben. Er schaffte es, bekam den Button mit dem Pardon-Teufelchen überreicht und mußte anschließend „dringend“ zum Toilettenwagen. Außer ihm hat es niemand mehr versucht.

 

Oben, eine schmale, gewundene Treppe führte hinauf, war der Scandia-Club, eine kleine Diskothek. Wenn wir hineingingen, tranken wir Chivas Regal und beobachteten, wie man auf der kleinen, viel zu engen Tanzfläche versuchte, sich nach „Green Tambourine“, „I Heard It Through The Grapevine“ oder Max Romeos „Wet Dream“, das im Radio nicht gespielt werden durfte, noch nicht einmal der Titel angesagt, zu bewegen.

Meist aber, jedenfalls, wenn wir mit dem Remmer-Club unterwegs waren, blieben wir draußen, lehnten uns im Flur vor der Kasse lässig an die Wand und ließen uns dort Bommerlunder mit Pflaume servieren, den wir nach einem strengen Ritual tranken: Glas in die Linke, Holzstäbchen mit Pflaume mit der Rechten zum Mund führen, Pflaume mit dem Mund vom Stäbchen abstreifen, Stäbchen knicken, in der Hand behalten, Pflaume zerkauen, Bommerlunder darübergießen, geknicktes Stäbchen ins leere Glas, Gläser zurück, neue Runde. Wer dabei einen Fehler machte, mußte diese nächste Runde bezahlen.

Kein Sport für einen hektischen Grobmotoriker. Ich glaube, es war immer billiger für mich, hineinzugehen und den Eintritt zu bezahlen, aber dann wären mir auch die tiefschürfenden Gespräche untereinander und die Plaudereien mit den Hineingehenden und Herauskommenden entgangen.

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Berlin!! Berlin!!! Berlin!

Ostern 1963

Das erste Mal in meinem Leben kam ich Karfreitag 1963 nach Berlin, mit einer kirchlichen Jugendgruppe, in einem Reisebus der Firma Bohm aus Uchte. Wir übernachteten in einem Evangelischen Studentenwohnheim: die Villa Axel Cäsar Springers in der Bernadottestraße in Sichtweite; das wurde vom Reiseleiter noch mit Stolz verkündet, daß uns großes Glück zuteilwerde, in einem so schönen, gerade neu erbauten Wohnheim in derart prominenter Nachbarschaft beherbergt zu werden, ja, damals glänzte der Name Springer noch, die Frontstadt fühlte sich geehrt, daß er hier seine Zelte aufgeschlagen hatte.

Von den vielen witzig gemeinten Spitznamen für die Gebäude, an denen wir während der Stadtrundfahrt vorbeifuhren, ist kein einziger hängengeblieben, allein an das Aschinger kann ich mich noch erinnern, wo man gleichermaßen billig wie gut essen könne, wenn man knapp bei Kasse sei, “und wer ist das nicht, hahaha”, vor allem die Erbsensuppe mit Bierwürsten sei weltweit berühmt. Gegessen haben wir dort dann doch nicht, stattdessen das erste und das letzte Mal in meinem Leben in einem Wienerwald. Um mich in diesem Augenblick als Mann von Welt zu fühlen, fehlte mir nur noch das Pepitahütchen.

Die Mauer stand auch auf dem Programm. Eine Treppe hoch auf eine Aussichtsplattform, ein doch eher langweiliger Ausblick, ich habe dann noch meine Fäuste geballt und “Ihr Schweine!” geknurrt, das, weil der Zwillingsbruder meines Vaters, Major bei den Grenztruppen, kurz zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Der Kettenraucher, 80 Stück am Tag, soll nachts im Schlaf aufgeschreckt sein, “Alarm! Alarm!” gerufen, unters Kopfkissen gegriffen und sich mit seiner Dienstwaffe “aus Versehen” in den Kopf geschossen haben. Mein Cousin hat später bei der Staatssicherheit angeheuert, um in irgendwelchen geheimen Unterlagen die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden, die Wende ist ihm dann aber nicht nur in dieser Angelegenheit dazwischengekommen.

Der eigentliche Zweck der Reise aber und der Grund, aus dem mir als noch nicht einmal 14-jährigen erlaubt wurde, an der Fahrt teilzunehmen, war ein Suchauftrag, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte. Im Krieg hatte es sie von Wolhynien über den Warthegau in die Tschechei verschlagen, wo sie meinen Vater kennengelernt, aber für Jahre wieder aus den Augen verloren hat, von dort nach Seifhennersdorf und gleich nach dem Kriegsende dann nach Berlin.

Hier war meine Mutter als Dienstmädchen bei einem jüdischen Ehepaar angestellt, das sich in den Kriegsjahren erfolgreich versteckt und sein altes Kaufhaus wieder übernommen hatte. Tagsüber hielt sie den beiden den Haushalt in Ordnung, abends und nachts, vor allem, war sie als Botin für Schwarzmarktgeschäfte unterwegs: Schokolade, Nylons, Zigaretten, Dollarbündel, stets in einer schäbigen Aktentasche verstaut, die sie in der Straßenbahn in Reichweite, aber unauffälliger Entfernung ablegen sollte, nicht etwa ängstlich behüten, damit niemand auf die Idee käme, es befinde sich etwas Wertvolles darin. Hauptumschlagplatz war die Femina-Bar, Paul Kuhn saß damals dort am Klavier.

Ich sollte nun nachsehen, ob es das Kaufhaus noch gebe, und eventuell dem Ehepaar die Grüße meiner Mutter übermitteln. Der vorletzte Tag stand zu unserer freien Verfügung, ich hatte Zeit für den Auftrag und setzte mich in die Linie, die mir meine Mutter auf einen Zettel geschrieben hatte. Es war tatsächlich immer noch die richtige Bahn, der freundliche Mann, bei dem ich mich erkundigte, an welcher Station ich aussteigen müsse, kannte sogar das Kaufhaus noch, es sei jetzt aber ein anderes Geschäft in den Räumen, wo die alten Besitzer zu finden seien, wisse er nicht.

Auch gut, ändere ich halt meinen Plan, dachte ich, und beschloß, Ostberlin zu besuchen. Ich hatte gehört, an der U-Bahn-Station Friedrichstraße gebe es eine Grenzübergangsstelle. Da stand ich nun einsam und verloren auf diesem Bahnsteig und sprach einen Uniformierten an, der aussah wie ein Grenzer: “Ich komme aus der Bee Err Dee”, so langsam, gedehnt und deutlich wie möglich, um meine freundliche Gesinnung, wenn nicht Sympathie zum Ausdruck zu bringen, “und möchte die DDR besuchen”, bis 1989 sagte ich aus Prinzip nur “DDR”, seit Oktober 1990 sage ich bis heute, ebenso aus Prinzip, nur noch “Ostzone”. Das sei an dieser Stelle doch möglich, setzte ich eher zaghaft nach. Der Uniformträger wies mich barsch ab, ich mußte mit der nächsten Bahn zurück.

So habe ich bis heute weder bei Aschinger gegessen noch dieses Kaufhaus oder seine Besitzer gefunden noch auch nur einen Fuß in einen Bezirk jenseits der Mauer gesetzt.

 

Jahrhundertwinter 1978/79

Kurz vor Weihnachten ereilte uns der Hilferuf der Berliner Genossen. Sie wollten unbedingt zur Wahl zum Abgeordnetenhaus im März in allen Bezirken mit einer Liste kandidieren und brauchten dazu Unterschriften, Unterschriften, Unterschriften. Wir fuhren mit drei Wagen los in die härtesten Wochen meines Lebens.

Es begann aber warm und gemütlich. Joachim lotste uns gleich nach dem Grenzübergang Wartha-Herleshausen in eine Gaststätte, in der wir uns für wenige Mark an Wildschweinbraten, Thüringer Klößen und Rotkraut satt aßen. In Berlin hingegen wurden wir, noch ehe wir Quartier nehmen konnten, nach Steglitz dirigiert, einen Stand aufbauen und die Passanten um Unterschriften anhauen. Bei minus 20° C im Freien. Niemand von uns hatte an langes Unterzeug gedacht und wir froren erbärmlich. Zum Glück gab es auf der anderen Seite des Platzes ein kleines Textilgeschäft, da marschierten wir nacheinander hinein, Natascha, die amerikanische Genossin von den Landwirten, als Avantgarde voran, kauften uns lange Unterhosen und zogen sie unter dem Grinsen des Personals auch gleich dort an.

Untergebracht waren wir bei Genossen mitten in Kreuzberg nahe der Oranienstraße. Allerdings sahen wir von Kreuzberg in diesen beiden Wochen fast nichts, schliefen nur dort und gingen jeden zweiten Abend irgendwo etwas essen. “Wenn das Gyros zehn Mark kostet, ist der Laden in Ordnung”, lautete der Ratschlag für die Restaurantauswahl und für das Überleben im Großstadtdschungel.

Ansonsten sammelten wir von morgens bis abends Unterschriften, durchkämmten die Bezirke systematisch, kämpften uns von Tür zu Tür, manche Gebiete nahmen wir uns auch ein zweites Mal vor, wenn die Unterschriften nicht reichen wollten. Meist bissen wir auf Granit, kaum einmal hatte ich es so leicht wie bei der zierlichen Frau Ende zwanzig mit dem engelhaften Gesicht, die mich freundlich lächelnd in ihre Wohnung bat, als sei ich erwarteter und lieber Besuch, mir sofort eine Unterschrift gab, ich mußte nichts erklären, und sogar eine KVZ abkaufte … erst viel später ist mir aufgegangen, daß Unterschrift und Kauf vielleicht gar nicht politisch motiviert waren.

Irgendwo in Neukölln. An der Tür ein Mann Anfang dreißig, der ein Feinripp-Unterhemd über der altmodischen braunen Cordhose trug. Im Wohnzimmer auf der Couch ein gleichaltriger, gleich angezogener Mann. Auf dem Tisch zwei Flaschen Bier, geöffnet, vielleicht zweieinhalb Schlucke weggetrunken, zwei Untertassen mit Napfkuchen. Sie saßen nebeneinander wie ein altes Ehepaar, sie boten mir den Sessel gegenüber an und Kuchen, kein Bier. Ich lehnte ab. Hinter mir lief der Fernseher.

Sie ließen mich reden. Höflich. Zurückhaltend. Keine Fragen. Dann aus dem Nichts: “Wir sehen, daß Sie ein Mensch guten Willens sind.” Das dicke Buch auf dem Couchtisch entpuppte sich als Bibel. Ich wollte ihre Unterschriften, sie wollten meine Seele retten und mir den Wachturm verkaufen. Eine Stunde redeten wir aneinander vorbei. Dann verließ ich die beiden. Im Fernseher lief gerade David Copperfield.

Irgendwo in Schöneberg. Im zweiten Stock klingelte ich zuerst rechts. Die Frau war freundlich, wollte aber nicht unterschreiben, warnte mich noch davor, es an der mittleren Wohnung zu versuchen: “Der Mensch is gefährlich. Bleiben Se lieber da weg.” Ich klingelte trotzdem. Ein Mann Ende dreißig, nur mit einer Leopardenunterhose und einem Leopardenumhang bekleidet, grinste über das ganze Gesicht: “Warten Sie bitte einen Moment.” Die Frau rechts flehte: “Nun haun Se schon ab!” Ich wußte nicht, warum. Als er dann in der Tür stand, mit dem Krummschwert in der Rechten die Luft schnitt, mit der Peitsche in der Linken knallte und dabei laut und dreckig lachte, wußte ich es. Ich machte auf der Stelle kehrt, so schnell, mit zwei Sätzen die halbe Treppe, mit acht Sätzen bis zur Haustür unten, war ich vorher nie und später auch nicht mehr.

Heiligabend begingen wir auf unsere Weise. Eine Kundgebung wurde angemeldet, wir traten in halb militärischer, halb religiös-ritueller Formation im Dreiviertelkreis an und brüllten gegen die bürgerliche Weihnachtsduselig- & -seligkeit alte Arbeiterlieder in die stille Nacht hinaus.

Bis in den späten Nachmittag hatten wir noch Hochhäuser im Märkischen Viertel nach Unterschriften abgeklappert. Die meisten Türen blieben verschlossen, eine wurde aber geöffnet, weil die beiden Kinder, fünf und sechs Jahre alt vielleicht, in mir den Weihnachtsmann vermuteten. Die Frau wollte unterschreiben, “ist doch Weihnachten”, der Mann tippte sich mehrmals heftig an die Stirn und beschimpfte sie feucht, sie zeterten noch, als ich, erschrocken über das, was ich angerichtet hatte, durchs Treppenhaus davoneilte.

Daran mußte ich denken, als wir unsere Kampflieder grölten und warmes Licht hinter den Fensterscheiben von einer Geborgenheit kündete, die wir durch unseren Kampf nie erreichen könnten. Ein wenig schämte ich mich auch.

Im Gegensatz zur Alternativen Liste bekamen wir übrigens in allen Bezirken die notwendigen Unterschriften zusammen, für diese Unfähigkeit belächelten wir sie ein wenig. Bei den Wahlen war es dann mehr als umgekehrt: Die Alternative Liste kam auf Anhieb auf 3,7 %, wir mußten uns mit spärlichen 0,1 % begnügen, 1367 Stimmen, weitaus weniger als mitleidige Unterschriften.

 

Pfingsten 1984

Ich hatte gerade in diesem Projekt “Erinnerungsprotokolle” für das Stadtarchiv angefangen. Deshalb lud mich Fritz zu einer Tagung der Geschichtswerkstätten ein. Wir fuhren zu dritt und wohnten diesmal in Charlottenburg bei Freunden von Fritz in einer Wohnung mit schönen hohen Decken und Parkettboden. Wir mußten uns vorher verpflichten, nichts, “aber auch wirklich nichts”, zu deren beruflicher Tätigkeit zu sagen: Veterinärmediziner, die in den Laboren von Bayer Tierversuche durchführten. Er wolle die Freundschaft nicht durch unser unqualifiziertes Gerede aufs Spiel setzen.

Was auf dieser Tagung überhaupt besprochen wurde, ist meinem Gedächtnis vollständig entglitten, zwei Erinnerungsfetzen nur, Randglossen dieses Aufenthalts: einmal das Kaffeetrinken mit Fritz’ Schwester, die in einem streng geschnittenen dunkel- und hellbraun karierten Kostüm erschien, welcher Gegensatz zum nachlässig alternativen Auftritt des Bruder, in einem Café am Kurfürstendamm in der Nähe der Gedächtniskirche; dann der 15-, 16-jährige Punk, eher adrett als Punk, in Charlottenburg beim Sonntagsspaziergang an der Hand der Frau Mama.

Wichtig war diese Tagung für mich nur, weil sie mir eine Einladung einbrachte für eine viel ertragreichere Veranstaltung der Barfußhistoriker und Spurensucher, nämlich der Friedrich-Ebert-Stiftung in Saarbrücken, zu der ich dann mit dem Zug fuhr und mich auf der Fahrt fast nicht mehr einkriegen konnte vor Vergnügen über Henscheids “Negerl”, als Dreingabe noch der schöne Abend, an dem ich, leicht angetrunken, zugegeben, eine Handvoll ironieunfähiger Sozialdemokraten, zwei Stunden nach Herzenslust hochnahm.

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Die glücklichsten Jahre der Menschheit

An einem Montag im Sommer 1971 nachmittags um 14:30 Uhr. Heeresfliegerwaffenschule. Jägerkaserne Bückeburg. Behandlungszimmer III des Sanitätsbereichs. Vor mir schwitzte ein Major vom Flugpatz Achum unter dem Lichtbogen, mir juckte die Kopfhaut unter dem Haarnetz, unter das ich meine Mähne bis auf den letzten Spliß ordnungsgemäß verstaut hatte. Aus dem Philips-Kassettenrekorder auf der Fensterbank tönte Hannes Waders Tankerkönig.

Die Dienstgrade vom Feldwebel aufwärts zu quälen und zu terrorisieren, wenn sie uns hilflos ausgeliefert waren, das sollte unser Beitrag zum Kampf gegen den Miltarismus sein. Das hatten wir beschlossen. Wir – eine Sechserbande – waren uns gegenseitig auf die Schliche gekommen war, als wir während der öden Nachtdienste um die Medikamentenschränke herumschlichen: auf der Suche nach brauchbaren Drogen. In den Schränken fanden wir nichts, darum legten wir zusammen und kauften von Chemieschülerinnen, die eine eigene Fabrikation aufgezogen hatten, nahmen das Zeug teils in der Kaserne, teils fuhren wir nach Minden ins Studio M oder nach Münchehagen ins Kanbach. Manchmal schauten wir uns auch in der Birke Filme wie Geißendörfers „Jonathan“ an oder drehten Verfolgungsjagden über die Treppen der Mindener Altstadt.

Was uns einte, war die Entschlossenheit, ganz und gar unsoldatisch daherzukommen und uns so weit wie möglich von den biertrinkenden rüpligen Kameraden zu unterscheiden, die den Fernseher aus dem dritten Stock warfen, wenn wir uns Filme von Werner Schroeter anschauen wollten.

Jede Gelegenheit, den Dienstbetrieb zu stören, kam uns recht. Wir brachten Kaliumpermanganat und Rubriment-Essenz in kleinen geschlossen Flaschen miteinander in Kontakt, warfen sie schnell aus dem Fenster und freuten uns, wenn die Explosionen die Wachen aufscheuchten und hektisch nach der Ursache suche ließen. „Geworfen Bombe über Zaun. Explodieren eine Stunde.“ Nach diesem nächtlichen Anruf mitten in schönsten RAF-Jagd-Zeiten wurde der halbe San-Bereich evakuiert, überwacht vom Kommandeur persönlich im Schlafanzug mit Schäferhund.

Normalerweise beließen wir es aber bei den kleinen Gemeinheiten gegenüber den höheren Dienstgraden. Manchmal gossen wir ihnen großzügig Kodan in ihre offenen Blasen, um ihnen zu zeigen, wie wir auch den härtesten deutschen Mann zum Weinen bringen, ließen sie bei der Blutentnahme absichtlich umkippen oder rieben sie vor der Lichtbogenbehandlung mit Rubriment-Essenz ein. Meist ärgerten wir sie nur mit der Musik, die sie nicht, wir aber mochten und stellten uns beim Wunsch nach Ruhe taub.

Dem Major unter dem Lichtbogen schien der Tankerkönig sogar zu gefallen. Er begann, mir ein Gespräch aufzuwingen. Ich habe doch Abitur und könne Offizier werden wie er. Meine Haltung zur Bundeswehr spiele keine Rolle. „Wir haben kalten Krieg, der wird niemals heiß.“ Und wenn doch, dann fielen sofort Atombomben, und wir alle, egal, ob Major, Hippie oder Fürst Philipp Ernst, seien „verdampft, noch vor dem ersten Alarm“. Keine Gefahr, je in einen Krieg ziehen zu müssen, dafür ein bequemes Leben. „Besser geht’s nicht.“ Ich solle nur ihn anschauen. Er habe die Kleiderkammer auf dem Flugplatz unter sich, die Arbeit machten die Untergebenen, er mache sich einen Lenz und „organisiere“ nur hin und wieder etwas.

Tatsächlich goldene Zeiten damals, als ein faules Soldatenleben denkbar, ein Krieg dagegen undenkbar war, und man sich hüben demütig „dem Amerikaner“ und drüben „dem Russen“ unterwarf. Dem Ratschlag des Majors bin ich trotzdem nicht gefolgt.

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Hotel Leibniz

1975 war der 11. April ein Freitag. Wir trafen uns zufällig in der Cafeteria, Barbara, Roland und ich, Tasse Kaffee in der weißen Plastiktasse vierzig Pfennig, Asso-Kuchen fünfzig, das heißt, den Kuchen hatte nur ich und der Saarländer Roland wie üblich Bier statt Kaffee. Wir kannten uns aus diesem Seminarkollektiv Herbst, hatten uns dort fleißig in der „Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft“ geübt und planten jetzt das zweites Semester. Ob wir noch einmal „ordentlich einen draufmachen“ wollten, bevor der Betrieb richtig losginge: Barbara. Die Idee gefiel uns. Wer denn noch eingeladen werden solle. Marianne und Cornelia aus ihrer WG seien auch wieder aus Soest zurück, außer Roland und mir dann nur noch Bosco. Der wurde so genannt, weil er aus Paderborn kam. Für sechs hätten sie gerade genug zu trinken.

Wir kauften trotzdem noch Cola sowie zwei Flasche Hansen und machten uns sofort auf den Weg. Die beiden anderen saßen in der Küche und taten erstaunt, Mariannes Augen leuchteten verdächtig, als sie Roland hereinkommen sah, Barbara hob kurz den Daumen zum Zeichen des Erfolgs, Cornelia telefonierte schnell mit dem ahnungslosen Bosco und bestellte ihn ein. Dann wurde in ihrem Zimmer ein Meer von Kerzen aufgestellt, der Plattenspieler angeworfen, wir machten es uns auf dem Teppich bequem, tranken Bier, Cola-Rum und Persico durcheinander und hörten „Tea for the Tillerman“ und „Buddha and the Chocolate Box“.

Kurz vor acht, wir waren schon recht lustig, trudelte Bosco ein. Die Runde um den Plattenspieler löste sich auf. Marianne und Roland nahmen den strategisch günstigen Platz auf dem kleinen Flur vor Mariannes Zimmer ein und erzählten sich traurige Geschichten aus ihrer Vergangenheit, Barbara, Cornelia und ich süffelten vorerst ohne Musik weiter, Bosco glaubte, ein Anrecht auf Marianne zu haben, setzte sich auch in den Flur und begann als der nüchternste von allen einen heftigen Streit mit Roland, der stetig an Lautstärke zunahm. Roland solle seine ungewaschenen Hände von Marianne nehmen, er, Bosco, liebe sie schließlich, und wolle deshalb auch ungestört von Roland mit ihr zusammen sein. „Das wollen wir doch erst einmal sehen.“ Roland dachte nicht daran, zu weichen, und legte seinen Arm um Marianne. Das brachte Bosco erst wirklich in Rage. Er stürzte sich auf Roland und wollte ihn von Marianne wegzerren. Ein wilder Ringkampf auf dem engen Flur. Das Tischchen mit dem Telefon kippte um, Bosco gewann die Überhand, schlug mit den Fäusten auf Roland ein, Marianne weinte: „So ein Arschloch.“

Jetzt griffen Cornelia und Barbara ein, packten Bosco am Kragen und zogen ihn von Roland herunter. „Von dir wollte ich noch nie etwas.“ Marianne mit Tränen in den Augen. Barbara scharf=giftig: „Und du verschwindest jetzt auf der Stelle und läßt dich bei uns nicht mehr blicken.“ Bosco wollte noch etwas sagen, aber ein vernichtender Blick aus Cornelias Augen ließ ihn verstummen. Er stellte den Telefontisch wieder auf, griff sich seine Tasche und schlich ohne Gruß davon. Marianne und Roland umarmten sich und verschwanden in ihrem Zimmer.

„Von dem lassen wir uns die gute Laune doch nicht verderben, Zapp, oder?“ Cornelia legte noch einmal Cat Stevens auf, Barbara schenkte Cola-Rum nach und blickte mir dabei tief in die Augen. Erst in diesem Moment wurde mir klar, warum die Mädchen diese Party überhaupt veranstaltet hatten, und ich rückte näher zu ihr. „Los, Zeit fürs Bett“, flüsterte Barbara dann irgendwann, nahm mich an die Hand und zog mich in ihr Zimmer. Cornelia schaute uns traurig nach.

Am Frühstückstisch tauschten Barbara und Cornelia dann rätselhafte Blicke aus, ehe sie verkündeten: „Wir machen durch bis morgen früh. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen“, an mich gewandt. „Wir kaufen noch ein bißchen ein. Mach es dir solange bequem. Lies, trink, hör Musik.“ Machte ich, aber an Musik war außer Cat Stevens nicht viel da.

Marianne und Roland fanden nicht aus dem Zimmer und so ging die Fete dann vom frühen Nachmittag an bei Kerzenschein, Cola-Rum, Persico und wieder Cat Stevens zu dritt bis in den späten Abend weiter. „Es ist spät, ich lege mich jetzt schlafen.“ Ich muß ein ziemlich blödes Gesicht gemacht, als Barbara das sagt und ich verwirrt zwischen den beiden hin und her blickte. „Gute Nacht, ihr beiden“, lachte sie glucksend und verschwand. Ich verstand die Welt nicht mehr. „Sei so lieb und komm endlich her zu mir, Zapp.“ Cornelia hatte sich in ihr Bett gelegt und ich folgte ihrer Aufforderung auf der Stelle.

Am Sonntag vernichteten wir dann in einer seltsam vernebelten Stimmung – natürlich akustisch wieder von Cat Stevens begleitet – die letzten Reste, woran sich jetzt auch das neue Pärchen beteiligte. Endlich machte ich mich müde und um zwei Abenteuer reicher auf den Heimweg. Marianne und Roland aber zogen erst zusammen und heirateten später sogar.

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Ringo

Won’t you shake me, baby, well get you rollin‘ down
Won’t you shake me, baby, well get you rollin‘ down
Oh, baby, we’re gonna have some fun

Selbstverwaltete Diskothek „Go In“ im Fresenhof an einem Sonntagnachmittag Anfang 1970. Kaum hatte ich Ten Years After aufgelegt, verließen die Hindenburg-Schülerinnen und Albert-Schweitzer-Schüler die Tanzfläche. An ihre Stelle – „Stark, Zapp, Alter!“ – traten Ringo und Frankenstein und zuckten im Stand nach dem schnellen Rhythmus, stadtbekannte Rocker beide. Frankenstein hieß so wegen seines Aussehens, in seiner Nähe durfte man das nicht wagen, mußte auf „Fränkie“ ausweichen. Von Ringo ging die Sage, er habe sich in der „Kajüte“ mit einem zertrümmerten Stuhl in der Hand die halbe Unterwelt der Stadt erfolgreich vom Leibe gehalten.

„Danke, Zapp, wir sind deine Freunde, wenn jemand was von dir will, du weißt, wo du uns findest.“ Jetzt hatte ich den Schutz der Kleinstadtrocker, aber auflegen durfte ich nicht mehr. Die anderen im Verein mochten das Publikum nicht, das ich anzog. Als Trostpflaster ernannte man mich zum Ehrenmitglied und sicherte mir lebenslangen freien Eintritt zu.

Bald darauf rauchten auch Ringo und Fränkie ihren ersten Joint, schworen der Sauferei und der Gewalt ab und wandten sich innerlich wie äußerlich Love & Peace & Happiness zu. Frankenstein kaufte sich eine Gitarre und zog als Straßensänger durch die Welt, Ringo verließ die Handelsschule und übergab sich einem von seiner Mutter betreuten Kleinstadt=Hippieleben.

Zwölf Jahre später, ich war nach Bund-, Arbeiter- und Studienjahren wieder in die Heimat zurückgekehrt, rief mich ein Bekannter an, ich solle „mal was Sinnigeres machen“ als Säcke zu schleppen in der Futtermittelfabrik, er brauche einen Co-Trainer für einen Kurs mit Arbeitslosen. Die Bezahlung war anständig, ich sagte Ernst-August und dem Dicken Adieu.

In der Teilnehmerliste ein Wolfgang Janz: Ringos bürgerlicher Name. Er wohnte noch immer bei seiner Mutter und wurde von ihr versorgt. Sein Lebenslauf hatte außer der abgebrochenen Höheren Handelsschule und Auszeiten als Flohmarkthändler nichts aufzuweisen, er wußte sich aber gut zu verkaufen, war er doch der einzige, den der IHK-Vertreter nach den gespielten Vorstellungsgesprächen übernommen hätte: in seinem Wunschberuf als Schallplattenverkäufer.

Auf dem Gebiet der populären Musik konnte kaum jemand Ringo etwas vormachen. Er war eng mit der lokalen Musikerszene verbunden und nannte zudem eine der wohlsortiertesten und umfangreichsten Plattensammlungen sein eigen – von den Stones über Zappa bis zu den Ramones, dazu jede Menge Krautrock.

Als er dann tatsächlich in einem der beiden Plattenläden der Stadt hätte anfangen können, kamen ihm plötzlich arge Bedenken. Der Laden in der Langen Straße sei der schlechtere von beiden, die hätten dort „keine Ahnung von Musik“ und gingen „sowieso bald pleite“. Es kam andersherum, als Ringo prophezeit hatte. Das Schallplattengeschäft in der Leinstraße, in dem er gern gearbeitet hätte, sich aber nie beworben hat – „Ich frag mal, wenn ich da die nächste Platte kaufe.“ – konnte sich nicht halten. Ringo blieb für den Rest seines Lebens arbeitslos.

Sechs Jahre später. Martin (damals Suchtberater, heute Paartherapeut) fragte mich, ob ich einen Wolfgang Janz kenne. Der behaupte, ich sei einmal einer seiner besten Kumpel gewesen, und wolle mit mir über alte Zeiten plaudern,

Ringos Mutter war inzwischen gestorben, ohne sie kam er in der Welt nicht zurecht, und er war in einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht. Da saßen wir dann bei einer Tasse Kaffee und erzählten den staunenden Mitbewohnern und Betreuern aus einer Zeit, in der wir beide, jeder auf seine Art, der Schrecken der braven Kleinstadtbürger gewesen waren.

Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz?
My friends all drive Porsches, I must make amends.
Worked hard all my lifetime, no help from my friends,
So Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz?

Oh Lord, won’t you buy me a color TV ?
Dialing for Dollars is trying to find me.
I wait for delivery each day until three,
So oh Lord, won’t you buy me a color TV?

Oh Lord, won’t you buy me a night on the town ?
I’m counting on you, Lord, please don’t let me down.
Prove that you love me and buy the next round,
Oh Lord, won’t you buy me a night on the town?

Ringo mußte von Sozialhilfe leben. Seine Plattensammlung wuchs nur noch sehr langsam. Nebenbei schrieb er Plattenkritiken für ein monatlich erscheinendes Veranstaltungsmagazin, das vor allem im Rimini=Dreieck Rinteln-Minden-Nienburg verbreitet war, und wurde in der warmen Jahreszeit oft als Ansager für kleine Festivals links und rechts der Weser gebucht. Als Höhepunkt brachte er dann immer Janis Joplins „Mercedes Benz“, das einzige Lied, das er, in Statur und Bewegungsablauf eher Joe Cocker ähnlich, singen konnte und durfte.

Vier Jahre später. Ohne diesen Zufall wären wir uns vielleicht nie wieder begegnet. Ich hatte Mittagspause und wollte etwas im Supermarkt einkaufen. Ringo saß links neben dem Eingang, dünne Arme und Beine, bunt-verwaschene Baumwollhose, ein Hawaii-Hemd schlotterte um seinen verfallenen Körper, Klappergestell und Schatten seiner selbst, und bettelte mich an: „Zapp, Alter, haste mal ne Mark für mich?“ Ich kaufte ihm eine Schachtel Mentholzigaretten und eine Dose Bier. „Danke, du warst und bist der Beste.“ Beides durfte er nicht mehr. Und beim Betteln durfte er auch nicht erwischt werden. Man hatte ihn jetzt im Altenheim um die Ecke untergebracht. Fünfundzwanzig Kilometer von seinem bisherigen Leben und seiner vertrauten Umwelt entfernt. Die Plattensammlung hatte der Heimleiter in Verwahrung genommen.

Ein einigermaßen normales Leben war ihm nur noch mit regelmäßigen Depotinjektionen Haldol möglich. „Bin vor Urzeiten auf nem Speed-Trip hängengeblieben, verstehste?“ Nach einer frischen Gabe hatte er Schluck- und Sprechbeschwerden: „Fast Zungenlähmung, Zapp.“ Aber man konnte sich einige Tage normal mit ihm unterhalten. Je weiter die Wirkung nachließ, desto unruhiger und hastiger wurde er, seinen Worten konnte man dann kaum noch folgen. In diesen Phasen war ich froh, wenn ich meinen wöchentlichen Besuch hinter mir hatte.

Er war erst vierundvierzig, aber viele Besuche wurden es nicht mehr. In seiner letzten Nacht, als er wußte, daß er sterben würde, bat er um ein letztes Bier und um eine letzte Zigarette. Beides wurde ihm „aus gesundheitlichen Gründen“ von der Heimleitung verwehrt. Stattdessen wurde seine Plattensammlung unauffällig einbehalten.

Zu Grabe getragen haben wir ihn zu viert: zwei ehemalige Betreuer, Martin und ich.

R.I.P.

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Himmelfahrt

Als ich zusammen mit Martin an Himmelfahrt vor 20 Jahren mit dem Fahrrad unterwegs war, dorthin, wo einst der letzte westdeutsche Wolf als „Würger vom Lichtenmoor“ sein Unwesen getrieben haben soll und Zuchthäusler im Außenlager Torf stechen mußten, kamen uns in Höhe Wölper Weg zwei Männer von der Freiwilligen Feuerwehr Erichshagen entgegen, die sich vollstramm und auf allen Vieren kriechend bereits um halb zehn auf dem Rückweg von ihrer Vatertagstour befanden.

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Zitronenmilch

An einem schönen Spätnachmittag im Mai saß sie drei Tische von uns entfernt im Café Güse am Aegi. Dunkelhaarig, schlank, von einem Schleier lächelnder Zurückhaltung umgeben, sehr aufrecht und sehr allein, wie es schien.

Wir arbeiteten beziehungsweise faulenzten alle bei Telefunken im Lager in der Halle 52 in Empelde und gingen nicht auseinander, wenn wir nach Feierabend vor dem Kubus aus dem Bus stiegen. Meist trieb es uns noch in die Markthalle, wir setzten uns vor die Bar auf der Empore und belästigten die Leute, die unter uns zwischen den Ständen herumwieselten, mit unangemessenen Zurufen. Manchmal mochten wir es auch etwas gediegener und wir setzten uns nach oben in die Güse.

An diesem Tag damals im Mai waren wir zu viert. Der kleine Mano, Spanier, als einziger verheiratet, Prediger mediterraner Eßkultur, bemerkte sie als Erster: „So schön und so allein, die braucht jemanden.“ Wir schauten alle hin und stimmten im Chor zu. Der schwule Scirocco=Liebhaber ohne Fahrzeug am Nebentisch schaute von seinem Autoprospekt auf und mischte sich ein: „Im Vertrauen: ich kenne die, bei der hat niemand eine Chance; da beißen Sie sich die Zähne aus.“

Das stachelte uns erst recht an. Wir legten jeder einen Zehnmarkschein auf den Tisch. Wer sich traute und keine Abfuhr bekam, sollte alles behalten. Alle hielten sich vornehm zurück. Ich gab mir einen Ruck und rief den Kellner: „Was hatte die Schöne gerade?“ „Zitronenmilch.“
„Dann bringen Sie ihr noch eine auf meine Rechnung.“
„Zwecklos“, wandte er ein, „aber wenn Sie darauf bestehen.“

Die Kollegen feixten. Er brachte ihr die Zitronenmilch. Sie nahm an und ließ mich an ihren Tisch bitten. Die Kollegen feixten noch ärger. Ich setzte mich zu ihr. Je länger ich dort saß, desto stiller wurden die Kollegen, bis sie nur noch ungläubig schauten und schließlich aufbrachen, ohne den Wetteinsatz auszuzahlen. Aber das Geld war mir inzwischen gleichgültig.

Wir redeten über eine Stunde. Heike. Sie wohnte bei ihrer Oma. Viel mehr erfuhr ich über sie auch später nicht. Wir wollten uns wieder treffen und ich mußte ihr die Telefonnummer der Halle 52 geben.

Eine Woche später rief sie tatsächlich an. „Zapp, beeil dich! Die Zitronenmilch ist am Apparat“, dröhnte der Vorarbeiter durch die Halle. Wir trafen uns dann zu einem Nachmittagsspaziergang um den Maschsee, dem weitere folgten, Herrenhäuser Gärten, ziellose Bummel durch die Innenstadt, Sprengel-Museum, auch ins Kino („Herzflimmern“ im Anzeiger-Hochhaus, Peter von Oertzen und Frau saßen direkt hinter uns) oder ins Theater am Aegi zu Marty Feldman, der die Zutatenliste auf einer Ketchupflasche wunderbar als Chanson sang und in der Pause im Foyer freundlich mit uns und anderen plauderte.

Ich hatte in meinem Kellerzimmer draußen in Schulenburg kein Telefon, bei ihrer Oma durfte ich sie nicht anrufen und bekam deshalb die Nummer auch nicht, ebensowenig durfte ich ihre Adresse erfahren oder wissen, wo sie arbeitet. Manchmal durfte ich sie bis nach Herrenhausen begleiten, wir verabschiedeten uns dann in sicherer Entfernung von ihrem Zuhause und sie achtete darauf, daß ich ihr nicht folgte. Unsere einzige Verbindung außerhalb unserer Treffen blieb das Telefon in der Halle 52.

Einmal ließ sie sich von mir zu einer abenteuerlichen Fahrt (mit dem Zug bis Wunstorf, von dort mit dem Bus nach Münchehagen, zurück mit Rüdiger bis Neustadt, weiter mit der Bahn) in meine Welt ins Kanbach überreden. Sie hatte sich mit einem Kleid extra fein gemacht und fühlte sich fremd und unwohl unter all den hippiesken Gestalten, obwohl sie von denen freundlich aufgenommen wurde.

Wenig später folgte der Gegenbesuch. Wir trafen uns (wieder nach einer Zugfahrt) mit zwei Pärchen aus ihrem Bekanntenkreis, denen ich als ihr Freund, ja, fast Zukünftiger vorgestellt wurde, in einer Diskothek in Burgdorf. In dieser Umgebung und bei dieser Musik wiederum fühlte ich mich nicht wirklich wohl. Und in einigen Momenten an diesem Abend beschlich mich das Gefühl, daß ich den Vieren gegenüber als lebender Beweis für ein ausgefülltes Beziehungs- und Geschlechtsleben Heikes herhalten sollte. Dabei hatten wir zwar viel gemeinsam unternommen, waren aber über harmlose Küsse nicht hinausgekommen, und dabei sollte es auch bleiben.

Oh yeah
Step by step
I’ve got to get close to you
Step by step
I’ve got to get to know you – oh yeah
You came into my life, my gods have the rain falling from above
And I knew when I first saw you
You were the one for me to love

Eines Tages, als wir wieder durch die Innenstadt bummelten, Arm in Arm, das schon, blieb sie vor einem Schallplattengeschäft stehen und zeigte auf diese Single von Joe Simon: Das sei ihr Lieblingslied. Ich konnte mit dieser Musik damals nichts anfangen und deshalb rauschte die Botschaft, die sie mir damit vermitteln wollte, komplett an mir vorbei und ist mir erst viel später aufgegangen.

Im Herbst kam dann das überraschende Ende. Wir hatten uns für einen Freitagabend verabredet und ich wartete über eine Stunde am Aegi vergeblich auf sie. Am Dienstag rief sie dann aufgebracht in der Halle 52 an. Ich habe sie am Freitag am Anzeiger-Hochhaus „dumm in der Gegend herumstehen“ lassen, das ließe sie sich nicht bieten, legte mitten in meinem Erklärungsversuch auf und ließ nie wieder von sich hören.

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Road Movie 1971

NI T 852 – da stand er vor uns, ein gebrauchter 1200er Käfer in Perugrün, für den ich zweitausend Mark hingeblättert hatte, und wartete darauf, Nappi B., dem wir Sonntagmorgen für Sonntagmorgen das Vergnügen gönnten, uns vier bis zwölf Sekunden lange „Stellen“ aus seiner Stockhausen-LP vorzuführen, Otto M., viel witziger als der andere, der berühmte Otto, meinen kleinen Bruder und mich in den Urlaub zu befördern.

Eigentlich sollte der alte Arschbackenkäfer meiner Mutter unser Gefährt sein, aber den hatte ich zwei Wochen zuvor noch am Tag des Führerscheinerwerbs beim Bund zerlegt, als ich bei einer Probefahrt einen Tramper mitnahm, mit der Rechten abwechselnd rauchte und lenkte, mit der Linken abwechselnd gestikulierte und lenkte, in einer engen Rechtskurve ins Schleudern geriet und mit der Arschbackenseite in eine Hecke krachte. Totalschaden, auch der Händler wollte keinen Pfennig mehr für ihn geben, als meine Mutter ihren Neuen bei ihm abholte, und ich mußte tief in die Tasche greifen.

Zwei Zelte, vier Luftmatratzen, vier Schlafsäcke, vier Taschen, Tomtom, Hi-Hat, Gitarre, Beaulieu 2008 nebst Stativ, alles sollte hinein, paßte aber nicht. Auf Anraten von Kasten Merry, Nachbar, Tankstellen- und Werkstattbesitzer, bauten wir die Rücksitzlehne aus und siehe da: Taschen und Schlafsäcke eigneten sich hervorragend als Lehnenersatz, alles andere paßte bequem dazwischen. Kurzerhand wurde noch mit dicken Buchstaben „Wyh’s Dworn“ auf ein Pappschild gemalt und ins Heckfenster gehängt, das sollte der Name der Band sein, die Otto und mein Bruder gründen wollten – Stilrichtung so zwischen Jimi Hendrix, Syd Barrett und Marc Bolan – und wir konnten losbrausen.

Aber wohin? An die Ostsee, darüber waren wir uns schnell klar. Wir klapperten die Badeorte an der Lübecker Bucht ab: Travemünde, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, überall gefiel es uns nicht, vor allem, weil man nirgends am Strand wild zelten konnte. Also weiter nordwärts an der Küste entlang bis Heiligenhafen. Das war ein Städtchen nach unserem Geschmack und in Großenbrode fanden wir sogar ein Stück Strand, an dem wir unsere Zelte ohne zu bezahlen aufschlagen konnten.

Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dort gebadet zu haben. Am späten Vormittag fuhren wir nach Heiligenhafen, setzten uns vor einem Café an einen Tisch im Freien, ich in meiner Schriftstellerjacke (Feincord, beige-braun) und der seriöseren Außenwirkung halber an einer Pfeife nuckelnd, schraubten die Beaulieu aufs Stativ und begannen, Aufnahmen vorzutäuschen, ohne jedoch nur einen Millimeter Film zu verschwenden. Hin und wieder sprachen wir eine junge Frau an, die uns besonders gefiel und schwafelten etwas von „Probeaufnahmen“, es fiel aber keine auf unseren Schwindel herein und wollte mitkommen und die Hüllen fallenlassen.

Einmal sind wir noch in Großenbrode ins Kino, das im Saal einer Gastwirtschaft stattfand, „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“, und an einem Tag haben wir uns nach Fehmarn aufgemacht, um zu dem Ort zu pilgern, an dem Jimi Hendrix noch ein Jahr zuvor aufgetreten war und mit dem ersten Anreißen einer Saite auch gleich die Wolkendecke aufgerissen und die Sonne hervorgelockt hatte, haben uns dann aber damit begnügt, als wir den Sund überquert hatten, kurz anzuhalten, auszusteigen, den heiligen Boden der Insel einmal zu berühren und gleich wieder umzukehren.

Als die Woche dem Ende entgegenging, waren die anderen unzufrieden und murrten. „Das ist doch kein Urlaub.“ „Keine einzige Frau aufgerissen, keiner von uns.“ „Du mit deiner Filmerei.“ Wenn darin das Problem liegen sollte, wußte ich einen Ausweg: „Heute abend ist Disco, da gehen wir hin und schlagen zu.“ Das ging Otto gegen den Strich: „Die spielen sowieso nur das Hitparadenzeug, da kann ich gleich zu Meyers Karl, wenn die Whities spielen.“ Nappi und mein Bruder schlossen sich an. Jetzt war ich sauer: Als ob es um die Musik ginge! „Dann gehe ich eben alleine hin“, grummelte ich und war auch schon weg.

In der Disco war die Angelegenheit in fünf Minuten erledigt. Mein erster Blick fiel auf ein Mädchen mit langen schwarzen Locken und einem süßen Gesicht, das mit einer Freundin am Rande der Tanzfläche herumstand, ich forderte sie auf, wir tanzten ein paar Schritte. Zu einer Party am Strand kämen sie gerne beide mit, nur nicht heute, morgen könnten sie noch eine Dritte mitbringen und eventuell sogar eine Vierte, ich müsse sie nur abholen und hinbringen.

Die anderen wollten nicht recht glauben, daß meine Mission erfolgreich verlaufen war, besorgten aber brav Essen und Getränke für die Strandparty auf ihre Kosten und sammelten fleißig Holz für ein Lagerfeuer. Ich hielt mich bis zum Abend vornehm zurück.
Sie kamen nur zu dritt zum verabredeten Treffpunkt und es war mein Bruder, der schließlich leer ausging. Während sich Nappi, Otto und ich mit den Frauen vergnügten, saß er mit der Gitarre am verglimmenden Feuer, griff tief „in die Grabbelkiste“, wie er es nannte und schrammelte die schlimmsten Fahrtenlieder und Schnulzen, um uns zu ärgern.

Nappi und Otto verschwanden mit ihren Eroberungen in den beiden Zelten und ich, obwohl am Abend zuvor in Disco blitzschnell im Zugriff, war wieder einmal der langsamste und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit der Schwarzgelockten seitwärts in die Dünen zu schlagen. Und dort, sei es, daß sie, sei es, daß ich ein wenig zu heftig war, fiel ihr mitten in der schönsten Vögelei die schwarzlockige Perücke vom Kopf und darunter trug sie eine blonde Kurzhaarfrisur wie Mia Farrow in Rosemaries Baby, ihr Gesicht erschien mir plötzlich tausendmal schöner als vorher, dazu dieses verzückte Lächeln mit halb geöffnetem Mund, meine Lust verzehntfachte sich plötzlich und ich kam schneller zum Ende, als mir und ihr lieb war. Sie setzte sich die Perücke wieder auf und wir leisteten meinem Bruder am Feuer Gesellschaft, bis die anderen aus den Zelten gekrochen kamen.

Für die anderen drei ging der Urlaub zu Ende, deshalb packten wir am nächsten Morgen alles zusammen, ich lieferte sie in der 280 Kilometer entfernten Heimat ab und schaute erst einmal im Café Marchioni vorbei, wer aus der alten Clique gerade wieder in der Stadt war. Dort traf ich Steffi, Freundin einer Ex-Freundin, mit der ich vielleicht irgendwann zusammengekommen wäre, wenn wir denn einmal gleichzeitig etwas voneinander gewollt hätten. Bei der letzten Begegnung auf einer Fete bei eben dieser Ex-Freundin wäre es fast soweit gewesen, wir knutschten schon auf dem Balkon wild herum, wurden aber wegen dieser „Unschicklichkeit“ von der Mutter rausgeworfen, betranken uns deshalb noch woanders und als wir uns dann wieder umarmen wollten, bekotzte sie mein schönes neues Hemd von oben bis unten und der Abend war beendet, bevor er richtig begonnen hatte. Steffi schlug vor, gemeinsam ins Kanbach nach Münchehagen zu fahren. Danach könnten wir ja sehen. So kam ich zum ersten Mal in meinem Leben ins Kanbach, das von diesem Tag an so etwas wie meine zweite Heimat werden sollte.

Mit Steffi wurde es aber auch an diesem Abend nichts, denn ich hatte mich in dem Moment, als ihr die Perücke vom Kopf fiel, schrecklich in die heiligenhafener Bekanntschaft verknallt und mußte unbedingt zu ihr zurück. Also machte ich mich am nächsten Morgen wieder auf den Weg nach Heiligenhafen – ich hatte ja noch eine ganze Woche Urlaub – traf sie auch in dem Café, vor dem wir immer gesessen hatten, sie aber ließ mich kühl abblitzen. Wir hätten beide gehabt, was wir wollten, mehr liege nicht drin, ich solle ihr nur noch meine Adresse dalassen, falls was passiert sei in der Nacht.

Ich trottete von dannen, stieg ins Auto und fuhr erst einmal Richtung Neustadt, wild entschlossen, dort meinen Urlaub fortzusetzen, wohin der erste Tramper am Straßenrand wollte. Dessen Ziel war Kassel. Ich setzte ihn am Hauptbahnhof ab, genehmigte mir an einer Bude einen Speckkuchen und trödelte ziellos in der Innenstadt herum.

Am Seiteneingang eines Kaufhauses wurde ich von zwei Jugendlichen angesprochen, ziemlich erfolglose Nachwuchszuhälter, wie sich später herausstellte, ob ich Trips haben wolle. „Nur eine Mark das Stück.“ Das war ein Zehntel des üblichen Preises, ich griff zu, kaufte zwei, die aber Kopfschmerztabletten täuschend ähnlich sahen und auch so schmeckten, warf sie gleich ein, hing eine Weile mit den beiden herum, merkte eine Ewigkeit gar nichts, sagte aber nichts, bis die beiden dann mit ihrem eigentlichen Anliegen herausrückten. „Kannst du uns mal eben wo hin fahren … soll auch nicht dein Schaden sein.“ Wenn es nicht weit ist, gerne.“ „Nein, nein, ist hier in der Stadt.“

An dieser Stelle hätte ich ablehnen müssen. Aber mich lockte das Abenteuer und so sagte ich nur, ich müsse erst pinkeln, und versteckte auf der Toilette alle Geldscheine, die ich bei mir hatte, in meinen Schuhen, eine Vorsichtsmaßnahme, die mir nachher helfen sollte, wieder heil aus der Sache herauszukommen. Dann fuhren wir los.

An einem mit Maschendrahtzaun umgebenen Gelände, im Hintergrund ein kasernenähnliches Gebäude, ließen sie mich anhalten. Sie stiegen aus, ich sollte abfahrbereit im Wagen bleiben. Nach wenigen Sekunden wußte ich, warum. Ein schwergewichtiges Mädchen von etwa sechzehn Jahren kam aus einem Gebüsch angelaufen, die beiden halfen ihr über den Zaun, rein in den Käfer und so schnell es ging, weg von diesem Ort. Ich jubilierte. Ich hatte das Rotbuch 24 gelesen, das Drehbuch zu Ulrike Meinhofs „Bambule“, der Film durfte nicht gezeigt werden, und jetzt war ich selbst mittendrin dabei im revolutionären Geschehen, bei einer Befreiung aus einem Erziehungsheim.

Pustekuchen. „Die Türken warten schon“, hieß es vom Rücksitz und ich wurde zu einem Wohnheim dirigiert. Die Türken waren freundliche Leute, saßen zu acht in der Wohnheimküche, servierten uns Tee und plauderten mit uns, das heißt mit uns drei Männern, das dicke Mädchen ging in einen Nebenraum und empfing dort einen von den Türken nach dem anderen, bis alle acht durch waren, die zahlten am Ende zehn Mark pro Nummer, siebzig Mark insgesamt, die beiden Nachwuchslouis waren zu dämlich, den Betrug zu bemerken, fühlten sich nur plötzlich wahnsinnig reich mit den siebzig Mark von den Türken und den zwei Mark von mir in der Tasche.

„Jetzt fahren wir nach Essen. Du fährst und wir bezahlen alles.“ Widerspruch schien plötzlich nicht mehr erlaubt. So fuhren wir mit zweiundsiebzig Mark in den Taschen der Loddel und knapp zweihundert in meinen Schuhen nach Essen. Da es ziemlich spät geworden war, übernachteten wir auf einem Autobahnparkplatz und wurden dort prompt kontrolliert. Die Beamten gaben sich aber mit meinem Bundeswehrführerschein zufrieden und wollten von den anderen keine Papiere mehr sehen.

In Essen frühstückten wir in einem Kaufhausrestaurant, die Nachwuchsloddel und ihre Nachwuchshure kauften auch noch ein paar Kleinigkeiten und dabei muß ihnen aufgegangen sein, daß wir zu viert mit den paar Mark nicht weit kommen würden. Jedenfalls kam erst das Mädchen auf mich zu und wollte mich überreden, mit ihr zusammen „abzuhauen“, sie würde dann auch für mich anschaffen, und ich dürfe sie ficken, so oft ich wolle.

Dann trennten wir uns, der Ältere ging mit mir in eine Kneipe ein Bier trinken, der Jüngere mit dem Mädchen „etwas besorgen“. Er kam ohne sie zurück und sagte, er habe sie an einer ihr unbekannten Ecke stehenlassen, sie müsse jetzt allein klarkommen, das Geld reiche für drei auch länger. Als der Ältere dann auf dem Klo war, meinte der Jüngere, er habe das Geld, für zwei reiche es noch länger, wir sollten uns in einem passenden Moment vom Älteren absetzen und aus dem Staub machen. Dann mußte der Jüngere pinkeln und der Ältere schlug mir vor, dem Jüngeren „eins über die Rübe“ zu geben und ihm das Geld abzunehmen. Jetzt bekam ich es mit der Angst, die beiden könnten mir „eins über die Rübe“ geben und sich mit meinem Wagen aus dem Staub machen.

Ich steckte dem Jüngeren den Plan, ihn auszuschalten, der mußte plötzlich schon wieder auf die Toilette und blieb verschwunden. „Hinterher, hinterher“, tobte der Ältere, „das Schwein hat das ganze Geld, nach Kassel, da kriegen wir ihn.“ Da ich jetzt auf keinen Fall aufdecken wollte, daß ich noch Geld im Schuh hatte, mußten wir wohl oder übel die Zeche prellen und uns auch heimlich verdrücken.

So ging es wieder zurück nach Kassel. Aber da so ein Käfer damals über zehn Liter auf hundert Kilometer verbrauchte und ich ohne Geld schlecht tanken konnte, wurde ich auch bald von der Gegenwart des Älteren befreit. Kurz vor Lippstadt, eine Tankstelle in Sichtweite, ging der Sprit zu Ende, ich konnte gerade noch rechts auf den Randstreifen fahren und bat den Älteren, mir ein paar Mark zum Tanken zu geben. Er habe wirklich nichts mehr, beteuerte er, stieg fluchend aus und versuchte, trampend weiterzukommen. Nach zehn Minuten wurde er wirklich mitgenommen. Ich marschierte mit dem leeren Reservekanister zur Tankstelle, bezahlte mit einem Schein aus dem rechten Schuh, mit dem vollen Kanister zurück, füllte die Notration ein, tankte dann in Lippstadt selbst für sagenhafte 52,9 Pfennig pro Liter wieder voll und beschloß, mich dort erst einmal umzusehen.

Ich kaufte mir ein Kilo Weintrauben und „Asterix bei den Briten“, setzte mich damit auf eine Parkbank und genoß den sonnigen Nachmittag, bis ich von einem jungen Einheimischen angesprochen wurde, der in mir wohl ebenso wie die beiden Louis in Kassel die Kifferseele erkannte. Seine Einladung, den Rest der Woche bei ihm zu Hause zu verbringen, seine Eltern seien gerade im Urlaub, nahm ich gerne an, hatte ich die Körperpflege in den beiden vergangenen Tagen doch etwas arg vernachlässigt.

Am Abend kamen noch zwei Freunde, wir hockten zusammen, tranken ein wenig, Stoff gab es nicht, den mußten wir erst am nächsten Tag besorgen. Wir legten zusammen, fuhren zu einer Adresse nach Hamm und kauften dort eine Hunderterplatte schwarzen Afghanen, die wir dann in einem Steinbruch bei Lippstadt zu viert in vier Tagen wegrauchten. Dort lagen wir dann, hochzufrieden und schwer stoned, konnten uns nur noch dazu aufraffen, uns hin und wieder kurz aufzurichten, schwächlich „Action!“ in die Runde zu rufen und wieder auf Moos und Gestein niederzusinken. An die Fahrten zwischendurch nach Lippstadt, um etwas gegen unseren Heißhunger und unseren Durst zu besorgen, erinnere ich mich nicht so gerne, da ich überhaupt kein Gefühl mehr für Geschwindigkeit hatte und streng nach Tacho fahren mußte.

So hatte dieser wilde Urlaub doch noch ein friedliches Ende, das mich dazu brachte, solcher Lethargie, „da war bestimmt O drin“, in Zukunft abzuschwören und nie wieder zu kiffen. Den Schwur habe ich später auch nur einmal gebrochen, als ich mit Rüdiger unterwegs war. Aber das ist eine andere Geschichte, die schon erzählt wurde.

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