Szene aus dem 2. Kapitel des Romanversuchs „Potemkinsche Hunde“
Bei der ersten Lage stellte ich mich noch ungeschickt an, der Korn schoß über das Bierglas hinaus auf mein Kinn und tropfte dann weiter aufs Hemd. „Korn macht keine Rotweinflecken.“ Volker war obenauf, weil er im Gegensatz zu mir die erste Lüttje Lage seines Lebens – ob’s stimmte? – hinunterbekam, ohne einen einzigen Tropfen zu verschwenden. „Wer in unserer Stadt heimisch werden will“, tönte scheppernd der dicke Schröder, der uns von unserer Zettelwirtschaft weg auf dieses Festzelt gelockt hatte, und lockerte seine Schützenkrawatte, „der muß das wenigstens einmal mitgemacht haben, beides, die Lüttje Lage und den Tilittentittitt, auch wenn ihm“, und dabei fixierte er mich, „als Achtundsechziger solche Vergnügungen als niedrig und wenig klassenbewußt erscheinen.“ Milder Tadel und milder Spott paarten sich in seinem Blick. Ich ersparte mir eine Erwiderung, eine politische Auseinandersetzung, ein regelrechtes Streitgespräch gar, wollte ich unbedingt vermeiden, das mußte hintan stehen zugunsten unserer Feldforschungen – zunehmend allein meiner, Volker hielt die Recherchen wohl nur für einen großen Spaß und schien sich wie Fritz langsam zurückzuziehen – um das Hotel und seinen seltsamen Bewohner.
Schröder orderte noch eine Runde: „Mach nochma‘ vier, Herbert“, zu dem Langen mit der Halbglatze hinter der Theke. Vier, weil außer ihm, Volker und mir auch noch Göbber zu unserer kleinen Thekenrunde gehörte, seinen ständigen Sparkassenfilialleiteranzug, mit dem er Kollegium und Schülern suggerieren wollte, er verstünde außer Deutsch und Geschichte auch noch etwas von Wirtschaft, hatte er an diesem Abend gegen das Schützengrün getauscht. „Sie zahlen natürlich, Walther. Wenn Sie es dann können, übernehmen wieder wir beide“, womit er Schröder und sich meinte: „Einverstanden?“ „Ja, ja“, knurrte ich und fügte mich ins Unvermeidliche. Von seiner Beurteilung, hauptsächlich, die anderen würden sich nach ihm richten, hing mein weiteres Schicksal ab, die Lehrprobe am nächsten Morgen in der der dritten Stunde. „So ist gut.“ Er hieb mir kräftiger als notwendig auf die Schulter.
„Schauen sie“, dozierte jetzt Schröder:“ Das Bierglas nehmen Sie mit Daumen und Zeigefinger. So. Das Schnapsglas klemmen Sie, zack, so hier zwischen Ringfinger und Stinkefinger, schräg, noch schräger, ja, so, oben muß es leicht rüber gucken, und dann mit Eleganz hinunter“, er sprach es aus wie „Elejanz“, aufsteigend, „es darf erst im Mund zusammenfließen.“ „Auf Kommando: Zack!“ Bei mir ging wieder etwas daneben, aber weniger als beim ersten Mal, und kleckerte auf die Brusttasche. „Noch einmal. Noch ‘ne Lage!“ „Nehmen Sie’s nicht krumm, Walther, so lernen Sie am schnellsten.“ „Und zur Belohnung erzähle ich Ihnen dann was über dieses sogenannte Hotel und über dieses Rumpelstilzchen. Ich nehme an, Sie sind deswegen hier und nicht wegen der Folklore oder weil wir so nette Menschen sind.“ Das half. Beim dritten Versuch klappte es endlich und ich bekam die Lüttje Lage vorschriftsmäßig hinunter.
Acht Runden folgten, die sich Schröder und Göbber teilten. Volker blieb weiter unbehelligt. Ich rechnete. Elf Gläser Lüttje-Lage-Bier, macht eins Komma eins Liter, das sind bei 3 %, mehr hat das Zeug nicht, 33 Milliliter Alkohol, plus elf Lüttje-Lagen-Korn, 32 Vol %, macht 11 Zentiliter Schnaps mit 35 Milliliter Alkohol darin, summa summarum nach Adam Riese 68 Milliliter Alkohol, auf sieben Liter Blut verteilt, wenn tatsächlich alles aufgenommen wurde, neun Komma sieben Promille, gut, ein wenig war auf die Hemdbrust geraten, sagen wir neun Promille, aber so besoffen fühlte ich mich bei weitem nicht. Irgendetwas stimmte nicht an meiner Rechnung.
Ich sollte nicht mehr auf den Fehler kommen, denn Schröder dröhnte in meine Überlegungen: „Und Sie wollen auch an dem Rennen teilnehmen?“ „Das ist doch nichts für Sie. Für solche Späße sind Sie doch schon zu alt.“ Volker und ich blickten uns verständnislos an. „Rennen? Welches Rennen?“ „Wir wissen von keinem Rennen.“ „Na, das allabendliche Rennen um Gisela in diesem Hotel.“ Schon wieder Gisela. Die Rivalin von Frau Handwerk. „Da geht man nicht rein. Allerhöchstens demonstriert man draußen auf der Straße vor dem Hotel. Wenn die NPD da mal wieder ihren Parteitag abhalten will.“ „Das war übrigens die einzige Demonstration, die es je in unserem Städtchen gab, fragen Sie den Kollegen Göbber.“
„Uns geht es nicht um Gisela“, Volker wieder, „wir sind glücklich verheiratet, beide.“ „Als ob das dabei eine Rolle spielt.“ Schröder und Göbber lachten los, prusteten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, Bier und Korn in ihren Gläsern schwappten über, klatschten auf die Planken des Zeltbodens, vermengten sich dort statt in den Kehlen und versickerten schnell in den Ritzen. „Ernsthaft“, setzte Volker nach, „und um das Lokal auch nur am Rande, weil, dieser Mensch, der Typ im Kamelhaarmantel, der stand neulich davor, als käme er geradewegs aus der Zeit vor dem Wirtschaftswunder und hätte den Rest der 50er und auch die 60er und 70er übersprungen.“ „Genau“, meldete ich mich, „über den wüßten wir gern mehr.“ „Alles“, bekräftigte Volker, „alles!“ „Jau!“
„Alles? Hm? Rein vom Hörensagen könnten wir Ihnen so dies oder das erzählen, hochinteressante Dinge, aber wir waren nie selbst da.“ Schröder zeigte auf einen dunkel gelockten jungen Mann, vielleicht neunzehn oder auch schon zwanzig, sein schwarzes Sweatshirt mit Buttons gegen Atomkraft, Krieg und Nachrüstung und für die Liebe übersät, der sich am gegenüberliegenden Rand der Tanzfläche heftig mit drei jungen Damen unterhielt: „Im Gegensatz zu Ansgar, der geht dort ein und aus.“ „Unser Ansgar“, Göbber vergnügt in sich hineinlächelnd, „der hat letztes Jahr bei mir Abitur gemacht, Zweierschnitt. Um den Bund ist er rumgekommen durch einen ganz und gar durchtriebenen Auftritt bei der Musterung.“ „Ja, ja, köstlich, köstlich, das müssen Sie unbedingt erzählen“, unterbrach ihn Schröder. „Ich bin doch dabei. Also. In den vier Wochen vor der Musterung hat er sich täglich Einstiche gemacht, nur mit der Kanüle, in die Armvenen links und rechts, in der letzten Woche davor abwechselnd Aufputsch- und Beruhigungsmittel genommen und sich so komplett um den Schlaf gebracht. Wir hatten uns schon Sorgen um ihn gemacht, weil er im Unterricht überhaupt nicht mehr mitkam. Bei der Musterung war er dann totenbleich und übermüdet und hat mit den Händen die Arme zugehalten, als wolle er etwas verbergen. Zeitsoldat wolle er werden, Offizierslaufbahn, hat er noch behauptet und sich erst geweigert, seine Arme vorzuzeigen, schamhaft, der Lump. Auf die Einstiche angesprochen, die waren ja nicht zu übersehen, nein, er nehme keine Drogen, ganz empört über die Unterstellung. So können wir Sie nicht gebrauchen, hätten sie zum Schluß zu ihm gesagt, machen Sie zuerst etwas gegen Ihre Sucht, wenn Sie nachweislich clean sind, können Sie sich wieder bei uns melden.“ Er bestellte noch eine Runde: „Reden macht durstig, Prost!“ Dieses Mal ging bei ihm etwas daneben. „Aber was macht unser Ansgar mit der gewonnenen Zeit? Gar nichts. Zu einem Studium kann er sich nicht entschließen, mal neigt er zur Sinologie, weil es dort Pinselübungen gibt, mal zur Theologie, weil man als Pastor nur sonntags arbeiten müßte, Betriebswirtschaft zu studieren und die Brennerei des Vaters zu übernehmen, das lehnt er vollkommen ab, wegen der Ausbeutung, sagt er. Er fährt nur den ganzen Tag in der Gegend herum, stellt meinen Schülerinnen nach und ist fast jeden Abend in Korffs Hotel zu finden. Er ist der Experte.“
„Ansgar!“ Schröders Bass dröhnte über die Tanzfläche: „Ansgar, kommen Sie mal hierher!“ Ansgar setzte sich in Bewegung, mußte seinen linken Arm aber erst aus den Händen der kleinen Blonden winden, die ihm erst nachschmachtete und dann wütend mit dem Fuß aufstampfte. Da war er aber schon bei uns an der Theke und nahm die Bestechungslage entgegen, die Göbber vorsorglich bestellt hatte. „Jetzt zeigen Sie mal, wie gut Sie schon trinken können.“ „Ganz hervorragend kann er das schon, und jetzt noch eine Runde auf mich. Fünf, Herbert!“
„Kommen wir zur Sache, Ansgar. Diese beiden hier, die sind jetzt Referendare bei uns und wollen alles über Korffs Hotel und über Rumpelstilzchen wissen. Aber erst einmal klären Sie sie bitte über Ihre Gisela auf.“ Ansgar wurde rot: „Das ist nicht meine Gisela, wie kommen Sie darauf?“ „Wenn er es nicht selbst erzählen mag, dann machen wir es eben, nicht wahr, Kollege Schröder?“ Der nickte. „Er gehört ja zu ihren Günstlingen, nicht wahr, Ansgar? Zu den Auserwählten, weil Sie so jung und attraktiv sind und ein Auto haben, deshalb dürfen Sie Gisela manchmal nach Hause fahren, geben Sie’s zu!“ Ansgar lief noch heftiger rot an als eine halbe Minute vorher. „Passen Sie auf“, an Volker und mich gewandt: „Wenn Gisela Thekendienst hat, sie ist die Schwester der Wirtin, müssen Sie wissen, bleiben die Gäste, die an ihr interessiert sind, bis zum Schluß und umlagern die Theke.“ „Kollege Göbber, Sie wissen ja bestens Bescheid.“ „Nur vom Hörensagen, nur vom Hörensagen, der junge Mann kriegt den Mund doch nicht auf. Also, wenn Gisela Dienst hat, bleibt die Horde bis zum Schluß und bringt mächtig Umsatz, weil, äh, weil sie immer einen von denen erwählt und ihm, äh, ihre Gunst gewährt, nicht wahr, Ansgar? Und das sind sehr oft Sie, geben Sie’s zu. Sie sind doch schon beobachtet worden, ja, da müssen Sie vorsichtiger sein, denn hier haben die Wände Ohren und die Zäune Augen, die Zäune, Ansgar, die Zäune“, und hier wurde Ansgar kreidebleich, „ja, glauben Sie denn, die Geschichte mit dem Zaun hätte sich nicht rumgesprochen? Sie haben sie doch besoffen nach Hause gefahren und dabei den Jägerzaun angefahren und dann haben Sie einen Brief von Giselas Mann gekriegt, der ist auch Schützenbruder, wissen Sie, in dem er Schadenersatz fordert für den demolierten Zaun. War doch so, Ansgar? Sehen Sie, hier bleibt nichts verborgen in unserer kleinen Welt.“ „Außerdem“, er kippte die nächste Lüttje Lage hinunter, „außerdem sind Sie beobachtet worden, wie Sie eingestiegen sind mit Gisela, und kaum fünfzehn Sekunden später hat Ihr Wägelchen schon gewackelt, aber Heidewitzka, noch auf dem Parkplatz bei Korffs Gasthaus. Sie sind wohl einer von der besonders schnellen Sorte, Ansgar?“ Dessen Gesichtsfarbe wechselte wieder ins Verlegen-Rote: „Aber das bin nicht ich, sie ist immer so gierig, das können Sie sich gar nicht vorstellen, so richtig zitternd gierig.“ „Erzählen Sie das Ihrem Klempner“, Schröder: „Ihr Testosteron schießt über, das ist alles, sieht man ja schon mit bloßem Auge.“
„Das ist ja alles hochinteressant aus zwischenmenschlicher Sicht“, drängte ich mich endlich ins Gespräch, „aber wir wollen mehr über den Kauz im Kamelhaarmantel erfahren, wie nennen Sie den noch mal, Rumpelstilzchen?“ „Ja, Rumpelstilzchen“, Ansgar war sichtlich froh über den Themawechsel: „Der hat da ein Zimmer gehabt.“ Jeden Morgen sei er runter in die Gaststube, das habe Ansgar aber selbst nicht gesehen, er gehe ja nur abends hin, wenn Gisela bedient, aber auch nicht jeden Abend, und nach dem Frühstück sei Rumpelstilzchen immer sitzen geblieben, immer am selben Tisch, immer auf demselben Stuhl, habe den ganzen Tag fast nur Kaffee und Cognac getrunken, manchmal Mineralwasser, nie Bier, zwischendurch Mittagessen und am Nachmittag Butterkuchen, „immer nur ein Stück“, kein Wort gesprochen, auch nicht bei Bestellungen, „alles mit Handzeichen“, aufgestanden sei er nur, um aufs Klo zu gehen, und jeden Abend um Punkt elf wieder nach oben verschwunden, Tag für Tag.
Rumpelstilzchen habe man ihn schließlich genannt, weil es einmal einem aus der Pokerrunde zu bunt geworden sei: „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, aber der Angesprochene habe Kalli, so hieß der Pokerspieler, nur stumm mit unbewegtem Gesicht angeschaut. „Kann der Kerl sein Maul nicht einmal aufmachen?“ Dann habe Kalli „Faxen gemacht“ und sei „wie ein Derwisch“ vor dem Schweiger herumgehüpft: „Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß, was?“ Daraufhin sei der so Angesprochene aufgestanden, habe Kalli eine kurze trockene Gerade aufs Kinn gesetzt, „nur ein einziger Schlag“, und der sei k.o. gegangen. Seitdem habe niemand mehr das Rumpelstilzchen angesprochen.
„Und jetzt wohnt er auch nicht mehr da, seit dem Vorfall mit der Gräfin.“ Gräfin? O Gott, jetzt tauchte auch noch eine Gräfin auf, die Geschichte wurde immer undurchsichtiger. „Erzählen Sie!“
Aber in diesem Moment stürmten zwei der blutjungen Damen, mit denen Ansgar vor unserem Verhör herumgestanden hatte, kreischend auf uns zu, ergriffen ihn und schleppten ihn zur Tanzfläche. „Tilittentittitt“, rief Schröder, alle in Deckung, jetzt wird’s gefährlich!“ Auf der Tanzfläche bildeten sich noch mehrere solcher Formationen, jeweils ein Mann und zwei Frauen, die sich bei ihm einhakten und mit ihm um ihn herumwirbelten, daß einem schon schwindelig vom Zusehen werden konnte, dabei wurde gekreischt und gejuchzt, die Musik wurde schneller und schneller, die Dreigespanne immer lauter und taumeliger, bis am Ende alle zu Boden stürzten und im Knäuel durcheinanderpurzelten. Mühsam rappelte sich Ansgar auf und zog seine beiden Partnerinnen hinter sich her zu uns an die Theke. „Hallo, Anja, hallo, Martina“, begrüßte Göbber sie: „Kommen Sie zu uns, hier beißen wir nicht, nur im Unterricht.“
„Lüttje Lage, sieben“, bestellte ich und als die Halbglatze hinter dem Tresen, Herbert hatte Schröder ihn gerufen, die Hand ans Ohr hielt, streckte ich ihm meine Linke hin und den kleinen plus Ringfinger der Rechten dazu. „Nein, danke, für uns nichts mehr“, Anja, die Blonde, „und für Ansgar auch nichts mehr, der muß uns noch nach Hause bringen.“ „Das machst du doch gern, nicht wahr“, die kleine Dunkelhaarige, Martina, wenn ich mich recht entsinne, „wir sind auch ganz lieb zu Dir.“ „Nichts da. Der muß uns noch eine Menge erzählen vom Rumpelstilzchen und der Gräfin. Diese Runde auf jeden Fall noch.“ „Sie wollen doch meine Schülerinnen nicht abfüllen, Walther, die sind doch kaum sechzehn.“ Als ob mich die beiden Mädchen interessierten oder ihr Alter, ich sah in diesem Augenblick nur meine Felle davonschwimmen, eine solche günstige Gelegenheit, Informationen zu sammeln, konnte ich doch nicht einfach verstreichen lassen. „Ach was, einer geht noch, keine Widerrede“, wischte ich Göbbers Einwand vom Tisch: „Da kommen sie doch schon.“ „Laß das, Peter, jetzt überschreitest du aber Grenzen.“ Jetzt war Volker endgültig gegen mich. „Für Lüttje Lagen lassen die beiden Schönen hier bestimmt nicht von Ansgar ab, da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen“, lachte Schröder blechern und kippte blitzschnell nicht nur seine Lage, sondern auch noch die der beiden jungen Damen hinterher. Ansgar konnte seine gerade noch vor ihm retten. Daß er sie überhaupt getrunken hatte, nahm ich als gutes Zeichen für seine Auskunftsbereitschaft.
„Kommen Sie doch alle drei mit zu uns, wir wohnen hier gleich um die Ecke“, schlug ich jetzt vor, „Sie können da übernachten, alle in meinem Bett, ich schlafe auf dem Küchensofa. Alkohol ist auch noch da.“ Ich dachte dabei an die beiden Kruken Montepulciano D’Abruzzo: „Na, ist das kein Angebot?“
Volker schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: „Wohin soll denn das jetzt führen?“ „Der pädagogische Eros“, stimmten Schröder und Göbber einen Kanon an: „Der pädagogische Eros, jetzt hat er auch unseren Walther erwischt, der pädagogische Eros.“ „Mit Minderjährigen“, Schröder in meine Richtung: „Quartett im Bett!“ „Das ist eine harmlose Komödie aus den 60ern, kein Sexfilm“, wehrte ich mich, „mit Insterburg & Co und den Jacob-Sisters.“ „Ein Glück, Walther, daß Sie nicht Mathematik geben müssen, viermal Insterburg plus viermal Jacobs“, Göbber zählte an den Fingern ab: „Das sind zusammen acht im Bett.“ „Neun“, Volker triumphierend: „Neun, Andrea Rau ist auch dabei. Von oben bis unten nackig! Doch ein Sexfilm. Ha!“
„Ich schlafe doch in der Küche. Ganz allein auf dem Sofa. Da spielt sich nichts ab.“ „Trotzdem“, Göbber in diesem widerlich dozierenden Ton, obwohl er schon mehr als betrunken war: „Das ist Förderung der Unzucht, Zuhälterei, das war vor ein paar Jahren noch strafbar, zwei Jahre Zuchthaus für Eltern, die ihren unverheirateten Kindern erlaubten, mit Freund oder Freundin gemeinsam zu übernachten.“ „Machen Sie sich nicht unglücklich, Walther“, stimmte Schröders Bass in den Chor ein. „Denken Sie an Ihre Lehrprobe morgen früh“, Göbber scharf.
Ansgar sagt nichts, die beiden Mädchen drückten sich an ihn, Martina links, Anja rechts: „Laß uns gehen, schnell.“ Wenn ich in dieser Nacht, noch irgendetwas erfahren wollte, mußte ich jetzt eingreifen: „Sie wollen doch wohl nicht mehr fahren, Ansgar, besoffen, wie Sie sind?“ Die beiden zupften ungeduldig an seinem Ärmel. „Anja. Martina. Geben Sie doch die Hoffnung auf. Da spielt sich sowieso nichts mehr ab bei ihm heute. Untenherum.“ Ansgar setzte sich in Richtung Ausgang in Bewegung. „Halt! Sie können doch jetzt nicht gehen und mich in Unwissenheit über die Gräfin zurücklassen. Los, kommen Sie!“ Ich nahm ihn bei der Hand, zog ihn hinter mir her aus dem Zelt, die beiden Mädchen im Schlepptau hinterher.
Volker hob resignierend-beschwörend beide Hände: „Er lernt es nicht mehr“ und drehte sich zur Theke um: „Drei, Herbert. Hier kann man was erleben. Das glaubt mir in Braunschweig niemand.“
Ich lotste die drei in unsere Küche und holte eine der beiden Kruken Montepulciano D’Abruzzo aus der Ecke und vier Wassergläser aus dem Schrank, aber die beiden Mädchen wollten nichts davon wissen: „Wo ist das Bett?“ Sie zerrten Ansgar hinter sich her und legten ihn darauf, ich seufzte und schloß die Tür. Dann setzte ich mich an den Küchentisch, goß mir ein Glas randvoll und breitete die Karteikarten vor mir aus. „Rumpelstilzchen“, „Gisela“ und „Jägerzaun“ waren schon vorhanden, jetzt nahm auch die Geschichte dazu Konturen an, „Gräfin“ fehlte noch, ich notierte das Wort fein säuberlich in Blockbuchstaben auf eine jungfräuliche Karte: „GRÄFIN!“ Ein Ausrufezeichen dahinter, denn es schien eine wichtige Figur in diesem Spiel zu sein. Dann schob ich diese Karte auf dem Tisch hin und her, versuchte, sie in Beziehung zu den anderen zu bringen, wußte aber leider noch zu wenig, ließ sie direkt neben „Rumpelstilzchen“ liegen und meditierte über dieses Bild, während ich in langsamen Schlucken den Rotwein trank, das erste Glas und zwei Drittel von einem zweiten.
„So geht das nicht, Peter!“, schreckte mich Volker auf und stürmte sofort in mein Zimmer. Ansgar war halbnackt eingeschlafen, Hosen und Unterhosen hingen ihm in den Kniekehlen, Anja hing schlafend an seinem Hals, Martina an seinem linken Knie, beide vollständig bekleidet. „Schluß jetzt! Das ist doch kein Puff hier.“ Volker riß die beiden Mädchen hoch: „Ich fahre euch jetzt nach Hause. Keine Widerrede!“ Im Halbschlaf taumelten sie hinter ihm her. Als ich die beiden Handtaschen auf dem Flokati entdeckte und eilig nachbrachte, war Volker mit ihnen schon auf der halben Treppe. „Wo wohnt ihr eigentlich?“
Auf dem Rückweg kam mir Ansgar entgegen: „Ich geh jetzt wohl auch besser, ich hab’s ja nicht weit.“ „Warten Sie, warten Sie, ich komme mit.“ Ich griff mir den D’Abruzzo und eilte hinter ihm her: „Unterwegs können Sie mir ja die Geschichte mit der Gräfin erzählen.“ Ich reichte ihm die Flasche: „Nehmen Sie erst mal ‘n Schluck zur Stärkung.“ Er trank im Gehen aus der Riesenflasche, ohne einen einzigen Tropfen zu verschwenden. Nach hundert Metern setzten wir uns auf eine Bank. Ich setzte die Flasche im Sitzen an, der Wein lief mir an den Mundwinkeln vorbei und tropfte auf mein Hemd. Ich beachtete den Fleck nicht, denn Ansgar fing an zu erzählen.
Er habe das nur von Gisela und nicht selbst erlebt, sie sei sehr gesprächig, wenn sie „nach der Liebe“ noch ein wenig in seinem Auto säßen und sich eine Zigarette teilten. Vor etwa zwei Wochen quartierte sich eine Frau im Korffs ein, knapp fünfzig vielleicht, mit Farah-Diba-Frisur und „altmodisch angezogen, so Kellnerinnenbluse“, die sei dann zum Frühstück runtergekommen, Gisela habe ausnahmsweise mal Frühdienst gehabt, Rumpelstilzchen, also, Gisela habe nach dieser Szene neugierig nachgeschaut, als „Steininger“ habe der sich da eingetragen, ziemlich bayrisch der Name, obwohl er ja norddeutsch klang, und, „jetzt kommt’s“, als die sich sahen, seien sie furchtbar erschrocken gewesen, beide, Rumpelstilzchen, also Steininger, auf jeden Fall. Und dann ein Gestammele: „Mein Graf.“ „Verehrteste.“ „Was machst du hier?“ „Ich habe dich gesucht.“ Eine Minute Stille. Er habe sich gesetzt und sehr unglücklich dabei ausgesehen, unglücklich und verärgert zugleich. Dann sie zu ihm: „Du bist raus, hat mir Ricco erzählt, schon lange, und jetzt mit einer anderen zusammen. Warum weiß ich nichts davon? Wir gehören doch zusammen.“ Sie sei dann an seinen Tisch und habe mit ihm gefrühstückt, sie hätten aufeinander eingeredet, flüsternd, man habe nichts verstehen können, sie vorwurfsvoll, er abwehrend. Plötzlich wurden sie wieder so laut, daß man alles mitbekam. „Das kannst Du mit mir nicht machen, was ich alles für dich gemacht habe, gelogen, meine Unschuld hingegeben, hast du das alles vergessen? Das Alibi und alles?“ Und er: „Hat es denn was genützt? Nein, du warst mir keine Hilfe. 23 Jahre mußte ich absitzen, 23 Jahre.“ Dann sei er aufgestanden: „Das ist nicht gut, daß du mich finden konntest, gar nicht gut. Dann muß ich wieder weiterziehen. Ohne dich, damit das klar ist.“ Er habe dann sofort seine Rechnung verlangt und sei ausgezogen, sie sei noch eine Stunde weinend am Frühstückstisch sitzen geblieben, habe aber nichts mehr angerührt und auch ihre Rechnung verlangt.
Ansgar verstummte und blieb einige Minuten bewegungslos und vor sich hin schweigend sitzen. Dann nahm er noch einmal einen langen Schluck, stand auf und torkelte ohne Abschiedsgruß davon. Sein Bericht hatte einen Berg neuer Fragen aufgeworfen und ich sah keine Chance, sie zu beantworten. Für welches Verbrechen wurde er 23 Jahre eingesperrt? Welchen Anteil hatte sie an seiner Tat oder an seinen Taten? Ja, wenn Steininger sein wirklicher Name wäre, dann könnte man das leicht herausfinden. Aber sie nannte ihn „Graf“ und er wollte nicht gefunden werden. Vielleicht hatte wenigstens sie sich unter ihrem richtigen Namen eingetragen.
Ich wurde plötzlich furchtbar müde, die Augen fielen mir halb zu, die Flasche glitt mir langsam aus der Hand, schlug schräg auf den platt getretenen Boden mit seinen spärlichen lehmgepuderten Grashalmen auf, kippte nach rechts, der Flaschenhals prallte unsanft auf mein Kahnbein und der dunkelrote Abruzzenwein plätscherte auf meine braunen Wildlederschuhe und meine weißen Socken. Nein, creme, nicht weiß: creme.