Quadronal und Bier für 35 Pfennig

„Walther! Rätzke!“ Mit gequält zitternder Stimme scheuchte uns Mucki Dahms vom Käsekästchenspiel hoch: „Ich habe Kopfschmerzen und brauche Quadronal.“ Er hatte immer Kopfschmerzen und brauchte immer Quadronal, wir waren beide in der neunten Klasse sitzengeblieben, aber Mathematik war nicht unser Problem, eher im Gegenteil. Quadratische Gleichungen, Graphen, Winkelfunktionen, wir wußten schon, worauf seine Bemühungen hinausliefen, und zerdepperten sie oft genug mit unseren vorschnellen Antworten, was seine Kopfschmerzen noch zu verschlimmern schien. Dann ließ er sich ein Glas Wasser holen, nahm eine Tablette und überbrückte die Zeit, bis sie wirkte, mit Ausführungen über sein Hobby, das Segelfliegen, oft mit Tafelskizzen über Auf-, Ab- und sonstige Winde, oder über das, was uns später an der Universität erwartete: Füchse, Burschen, Alte Herren, Mensuren, Trinkgelage. Ging sein Tablettenvorrat zur Neige, rief Mucki Dahms die Alarmstufe Rot aus und schickte vertrauenswürdige Schüler in die Apotheke, am Donnerstag in der dritten Stunde immer Paul und mich.

„Für Herrn Studienrat Dahms, nicht wahr?“ Der Apotheker kannte uns schon und wußte, für wen wir das Quadronal holten. Das Wechselgeld durften wir behalten, das wußte er nicht, und auch nicht, warum wir es ausschließlich in Groschen ausgezahlt haben wollten. Wir gingen nämlich nicht sofort in die Schule zurück, sondern kehrten erst einmal bei Tante Mariechen ein, der Wirtin des Gasthauses Kindermann, Lange Straße 93 neben der Markthalle. Dort kostete das kleine Bier, null Komma zwei, nur 35 Pfennig, ein auch vor fünf Jahrzehnten äußerst günstiger Preis, zugeschnitten auf den Geldbeutel der Baustudenten vom Corps Hannoverania, die dort ihre Kommersabende veranstalteten und einen kleinen Schießstand hinter dem Haus hatten.

Für das Bier rührten wir das Wechselgeld aus der Apotheke nicht an, die Groschen waren unser Einsatz, Risikokapital, für unsere Raubzüge am Geldspielautomaten, der zu unserem Glück von der Theke aus nicht einsehbar war. Wir hatten herausgefunden, wie man dieses Modell überlisten und bis auf den letzten Groschen plündern konnte. Man mußte nur Groschen für Groschen hineinstecken, warten, bis einmal der Höchstgewinn kam, eine Mark damals, dann den Stecker aus der Steckdose ziehen, ein weiteres Zehnpfennigstück in den Geldeinwurfschlitz werfen, den Stecker wieder hinein in die Steckdose stecken: das Gerät lief wieder, aber ohne daß sich die Scheiben drehten, und spuckte erneut den Höchstgewinn aus. Das konnte man wiederholen, bis der Automat leer war. Wir mußten nur genügend Groschen für die Anschubfinanzierung dabei haben und darauf achten, die Scheiben vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Erstens rotierten sie ja wegen unserer kleinen Manipulation nicht und zweitens flackerten sie in einem nervenden Alarmblau, um den Fehler anzuzeigen.

Erwischt hat man uns nie, aber eines Tages fanden wir den Stecker mit mehreren überkreuz angebrachten Schichten Leukoplast an der Steckdose befestigt und wir wollten das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Den Rest unserer Quadronal-Freistunden verbrachten wir von da an am Flipper im Hinterzimmer einer kleinen Kneipe in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße nur wenige Schritte vom Buchhändler Ulrich entfernt.

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3 Antworten zu Quadronal und Bier für 35 Pfennig

  1. Peter sagt:

    Solltest du je deine Erinnerungen als Buch herausgeben…aber bloß nicht als E-Book
    würde ich es SOFORT kaufen. Einfach hervorragend, wie du die Zeit , quasi fühlbar
    machst. Alles stimmt, die Sprache, die Athmosphäre, die Typen, die Orte …grosses Kompliment!

  2. Jürgen Lotze-Schad sagt:

    Die Kneipe in der Friedrich-Ludwig-Jahnstr. hieß „Hammer“ und besaß einen wunderbaren Französich-Billard-Tisch. Im Vereinszimmer stand ein Klavier, auf dem ich bisweilen meine Mutter begleitetete, wenn die Nienburger Musikfreunde probten.
    Buchhändler Ulrich (Seine Tochter war von beeindruckendem Liebreiz.) wurde von mir um ein Exemplar „Lady Chatterly“ erleichtert. (Verglichen mit den „Groschenraubzügen“ eher ein Kollateralschaden.) Ich mochte es ihm auch dann nicht gestehen, als er im Ruhestand gerne an der Seite seines Hauptabnehmers für Reclamheftchen, OSTR. Danker, über die Weserpromenade schlenderte. „Guten Abend, die Herren!“ – “ Wer war er denn?“
    Der Geruch seines Ladens ist mir augenblicklich in der Nase.

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