Ein Duell

„Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.“ San=Bereich der Jägerkaserne Bückeburg: Wir waren im Dienstzimmer des Hauptfeldwebels angetreten, stramm ausgerichtet in einer Reihe, Hände an der Hosennaht, der Kommandeur nahm den unangekündigte Haarappell persönlich ab, spazierte mit hinten verschränkten Händen in unserem Rücken und beäugte peinlich genau Hinterkopf für Hinterkopf.

Stuffz B. mußte es bezeugen: bei Hauptfeldwebel M. hing ein einsames Haar drei oder vier Millimeter über den Hemdkragen. „Sie sollen doch Vorbild sein als Vorgesetzter, Hauptfeldwebel“, donnernd und schneidend zugleich: „Melden Sie sich bis spätestens drei bei mir mit einem vorschriftsmäßigen Haarschnitt.“

Ausgerechnet Hauptfeldwebel M., dieses Muster an Angepaßtheit, der sein inneres Gleichgewicht und seine fast debil anmutende Freundlichkeit, mit der er Vorgesetzten wie Untergebenen begegnete, regelmäßigen Libriumgaben verdankte. Als er mich einmal wegen einer Krankenwagenfahrt, am Freitagnachmittag zum Bierholen für die Unteroffiziere zur Schaumburger Brauerei nach Stadthagen, angeblich unter Einfluß bewußtseinserweiternder Drogen, zu sich zitieren und zur Rede stellen mußte, genügte: „Das können Sie doch mit mir nicht machen“, um ihn einknicken und lächelnd bei mir entschuldigen zu lassen.

Ums Haar, genauer: um die Haarlänge ging es bei diesem Duell von Anfang an, der Hauptfeldwebel war aber nicht der eigentliche Gegner, das war der wehrpflichtige Stabsarzt, und der mußte nicht zu diesem Appell antreten, sondern saß nebenan im Sprechzimmer und feixte. Sofort mit seinem Dienstantritt in der Jägerkaserne hatte er sich mit dem Kommandeur angelegt, weigerte sich wie 1967 in Neuburg der Panzergrenadier Albrecht Schmeißer (später im Bundesvorstand der Grünen) unter Berufung auf seiner Grundrechte, sein Haar auf die befohlene Kürze zu stutzen. Auch das Tragen eines Haarnetzes beeinträchtige seine Menschenwürde, der Haarnetz-Erlaß schreibe es auch nur vor,  wenn das lange Haar den Soldaten bei seinen Aufgaben behindere, das sei bei seiner Tätigkeit als Arzt nicht der Fall. Der Krieg wurde schriftlich geführt mit Widersprüchen und seitenlangen Anwaltsschreiben, anders als Hauptmann Fellhauer im Fall Schmeißer schreckte der Kommandeur am Ende vor einer Strafanzeige wegen Gehorsamsverweigerung zurück und verbot dem Stabsarzt nur das Tragen der Uniform, solange er sein Haar nicht auf die gebotene Kürze brachte oder ein Haarnetz trug.

Diesen Befehl befolgte der Stabsarzt und versah seinen Dienst von nun an in Zivil: weinrote Lederjacke, Jeans, hohe Stiefel, das dunkle leicht gewellte Haar über den Kragen fließend, so stieg er jeden Tag aus seinem weißen 300 SL Roadster, grüßte freundlich winkend mit einem leicht spöttischen Lächeln vom Parkplatz zum Kommandeursgebäude hinüber, tauschte drinnen die Lederjacke mit dem Arztkittel, zunächst nach oben in die Teeküche, dort hatte die Schwester, Zivilpersonal gab es auch, die ihn (oder seinen 300 SL?) anhimmelte, schon einen Kaffee aufgebrüht, der wurde in aller Gemütsruhe getrunken, dann erst wieder nach unten zu den Patienten, deren Ungeduld wir bis dahin zu zügeln hatten.

Die Unteroffiziere, die in der Jägerkaserne zu Feldwebeln ausgebildet wurden – und auf dem Flur, auf dem wir Sanitätssoldaten schliefen, sämtliche Revierdienste übernehmen mußten, das gefiel uns besonders – diese Unteroffiziere und die angehenden Hubschrauberpiloten, die sich hier die Theorie und die notwendigen Englischkenntnisse aneignen mußten und oft genug kurz davor standen, durchzufallen, hatten es immer eilig, bettelten manchmal, vorgezogen zu werden, den Mannschaftsdienstgraden dauerte das Warten meist nicht lange genug und sie hatten selten etwas dagegen, sich die Zeit bis zum Mittagessen im San=Bereich zu vertreiben.

Ernsthafte Erkrankungen gab es selten, meist Erkältungen oder Blasen, hin und wieder simulierte jemand, den unterzog der Stabsarzt einer bizarren Untersuchung. Er mußte sich auf das linke Bein stellen, den rechten Fuß hinter die linke Kniekehle, mit der rechten Hand über den Kopf ans linke Ohr, gleichzeitig mit der linken Hand an die linke Wade fassen, sagen, an welcher Stelle es jetzt besonders schmerze. Wer sich dieser Übung demütig unterwarf und eine medizinisch unmögliche Antwort gab, dem verordnete der Stabsarzt Bettruhe bis zum Wochenende und freute sich diebisch, der Bundeswehr wieder einmal eins ausgewischt zu haben. War ihm aber jemand unsympathisch oder ein höherer Dienstgrad, dann ließ er den sofort mit einer erfundenen Diagnose auf die Station (10 Betten, davon höchstens zwei belegt) einweisen, mindestens eine Woche und über ein Wochenende, damit er nicht nach Hause konnte und sich bei uns langweilen mußte.

Montags war das Wartezimmer immer rammelvoll, am Freitag gähnend leer. An einem Montag reichten die Stühle nicht. Allein 20 Soldaten wollten zum Zahnarzt, auch ein Wehrpflichtiger, ein Fall wie unser Stabsarzt, nur überzeugter Kurzhaarträger, ungewöhnlich, normalerweise hatte er nur vier oder fünf Behandlungen am Tag. Zwanzig, das paßte ihm überhaupt nicht, nicht für die lumpigen 14 Mark Wehrsold am Tag, er ging hinüber zum Stabsarzt, kurze Lagebesprechung. Ich mußte eine Flasche Ketchup aus der Teeküche besorgen, der Sanitätsgefreite Morche wurde wegen seines geringen Gewichts auserkoren, als erster Zahnpatient aufgerufen. Der Bohrer wurde hörbar angeworfen, Morche schrie wie am Spieß, der Zahnarzt stürzte hinaus auf den Flur: „Sanitäter, Trage, Trage, aber schnell! Schnell!!“ Jesse und ich kamen gelaufen, aber erst, als der Zahnarzt uns noch einmal überlaut zur Eile ermahnte. Morche legte sich auf die Trage, ich goß ihm reichlich Ketchup über Mund und Wange, dann rannten wir los, an den erschreckten Wartenden vorbei, Morche spuckte ein wenig von der roten Flüssigkeit aus und blubberte: „Mörder, die wollen mich hier umbringen.“ Ein wenig übertrieben, fand ich, aber es wirkte: Als wir zurückkamen, saßen nur noch drei Zahnpatienten im Wartezimmer, die anderen hatten sich eilends Überweisungen an Zahnärzte in der Stadt ausstellen lassen. Unser Zahnarzt hatte seine Ruhe, die Bundeswehr zusätzliche Kosten.

Gemeinsam waren der Stabsarzt und der Zahnarzt unausstehlich. Besonders gern gingen sie im Offizierskasino auf die Nerven, benahmen sich daneben, pöbelten herum, wollten mit jedermann Bruderschaft trinken. Sie herauszuwerfen traute man sich nicht, besonders, nachdem sie eine schriftliche Belobigung vom Kommandeur erhalten hatten, für ihre Geistesgegenwart: sie hatten Zeitungspapier locker zusammengeknüllt, ins Klavier gesteckt, in einem unbeobachteten Moment angezündet, „Feuer!“ gerufen, den Feuerlöscher von der Wand gerissen, ihn komplett ins Klavier entleert, sich als Helden und Retter feiern und einige Runden ausgeben lassen.

Am zweiten Weihnachtstag wollte sich einer der Offiziere bei uns und vor allem beim Stabsarzt besonders unbeliebt machen. Am frühen Nachmittag saßen wir gemütlich herum, nichts zu tun, alle Betten leer, im Fernseher lief gerade die Wiederholung einer alten Beat-Club-Sendung, die Bonzo Dog Doo-Dah Band, „Trouser Press“ in Schlafanzügen, dieser Offizier, ein Oberleutnant, scheuchte uns auf, wollte unbedingt den Arzt sprechen, nein, was er habe, könne er unmöglich uns sagen, nur dem Arzt, Zeit bis morgen habe sein gesundheitliches Problem auch nicht. Der Stabsarzt hatte zwar Dienst wie wir, aber nur Bereitschaft, wir mußte ihn anrufen. Er war ziemlich ungehalten, in unserem Beisein am Telefon wollte der Oberleutnant auch nicht mit seinem Problem herausrücken, er habe das Recht, vom Arzt behandelt zu werden. Der Stabsarzt weigerte sich, selbst zu fahren, ich mußte ihn mit dem Ford Transit aus Stadthagen abholen.

„Den lassen wir eine Weile schmoren.“ Er bot mir einen Tee mit Rum an, führte mir ausführlich seine Anlage mit einem nagelneuen ReVox A 77 MK III als Herzstück vor, erzählte von seiner Studienzeit in München, von dem Kino, in dem an jedem Nachmittag ein Eddie-Constantine-Film lief, in das sie sich mit einem Kasten Bier setzten und zu Eddies Faustschlägen die Flaschen klacken ließen, wir brachen erst nach 50 Minuten auf. Ehe der Weihnachtspatient sich über die Verspätung beschweren konnte, franzte er ihn, weil er uns bei diesen Straßenverhältnissen zu dieser Fahrt gezwungen habe.

Nach einer Viertelstunde eilte der Oberleutnant wieder aus dem Sprechzimmer, unhöflich ohne Gruß an uns vorbei. Der Stabsarzt wollte sich ausschütten vor Lachen und erzählte uns brühwarm, was der Herr unbedingt vor uns verschweigen wollte: seine Frau habe ihn zu uns geschickt, nach der Weihnachtsvöllerei habe er es im Bett nicht mehr gebracht. „Überfressen, sonst nicht.“ Er habe ihm Vitamin E gegeben: „Das wirkt auf jeden Fall. Der Mann ist sonst normal potent, damit ist er so spitz, daß er drei Tage nicht mehr von der Frau runterkommt.“ Wir wollten es gerne glauben.

Im Frühjahr, kurz vor seiner Entlassung, holte unser Stabsarzt dann zum entscheidenden Schlag gegen den Kommandeur aus. Hygieneinspektion, das gehörte zwar, zu den Aufgaben der Ärzte, war aber bis dahin mehr als vernachlässigt worden: Gemeinschaftsräume, Offizierskasino, Kantine, Küche, immer in Begleitung des Kommandeurs, zum Schluß der Knast, das eigentliche Ziel. „Unhaltbare Zustände, das kann ich nicht verantworten, daß hier noch jemand auch nur eine Minute einsitzt.“ Die beiden Gefangenen seien woanders unterzubringen, der Knast auf der Stelle zu schließen, gründlich zu reinigen und zu desinfizieren, und könne erst nach nochmaliger Überprüfung wieder belegt werden. Dagegen war der Kommandeur bei aller militärischer Befehlsgewalt machtlos, was gesundheitsgefährdend war und was nicht, bestimmte in diesem Fall unser Stabsarzt. Da half auch die Intervention beim Oberstabsarzt nicht.

Ein neuer Haarerlaß hatte das Haarnetz inzwischen wieder abgeschafft, die Haarlänge war jetzt genau festgelegt, das Kopfhaar durfte weder Uniform noch Hemdkragen berühren. Mit dem Haarappell im Dienstzimmer des Hauptfeldwebels wollte der Kommandeur diese Bestimmungen durchsetzen und einen Konter gegen die Knastschließung setzen. Der Stabsarzt war aber nicht betroffen, weil er gerade wegen seiner Haarlänge keine Uniform tragen durfte, und so wurde diese Aktion von uns als wütendes und hilfloses Eingeständnis der Niederlage aufgefaßt – als sei’s aus einem Film mit Louis de Funès.

Der Stabsarzt riet dem Hauptfeldwebel, nicht zum Kasernenfriseur, „diesem Pfuscher“, zu gehen, holte eine Schere aus dem Behandlungszimmer und schnitt das vorwitzige Haar eigenhändig ab.

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