Der Mann mit der Hasenscharte

Zugig, unfreundlich leer, das schmutzig-kalte Licht ließ mich mitten im Sommer frösteln, ich stand in der Bahnhofshalle, studierte die Fugen und Kanten der grauen Treppenstufen, die hinunterführten in den Tunnel zu den drei Bahnsteigen, und wartete an diesem Sonntagabend, bewaffnet mit einigen Zeitungen und einem Stapel Flugblätter, die zum Roten Antikriegstag aufriefen, auf die Soldaten, die nach dem Wochenende wieder zurück mußten in die Kaserne nach Langendamm. Quietschende Bremsen eines anhaltenden Zuges, Lautsprecherdurchsage, es war der falsche Zug, der aus Bremen, der aus Hannover kam immer einige Minuten später: die Schritte eines einzigen Menschen hallten mir durch den langen Gang entgegen.

Ich kannte ihn flüchtig aus der Schulzeit, Klaus, wenn ich mich richtig entsinne, mit der Hasenscharte, seine Haare waren jetzt etwas länger, einen Bart hatte er sich auch stehen lassen. Er kam direkt auf mich zu: „Zeig her, Zapp“, dann zum Flugblatt: „Das ist gut.“ In der Schule war er mir nie aufgefallen, gehörte zu den strebsamen Braven und Angepaßten. Er kaufte mir sogar eine „Rote Fahne“ ab und, als ich ihn gleich noch für den Roten Antikriegstag in München gewinnen wollte, lud er mich überraschend ein, das Gespräch bei ihm zu Hause fortzusetzen. Da könnten wir uns in aller Ruhe „über die Revolution und so“ unterhalten. In drei Minuten, er blickte auf seine Uhr, fahre der letzte Bus nach Stolzenau, den wolle er unbedingt noch bekommen.

Ein paar Tage später war ich mit der neuen „Roten Fahne“ bei ihm. Er wohnte noch bei seinen Eltern, oben unter dem Dach. Er nahm mir die Zeitung ab, legte sie aber sofort achtlos beiseite: „Zuerst habe ich Marx gelesen. Langweilig, nichts für mich.“ Von den Blauen Bänden war auch keiner zu sehen. „Dann habe ich Lenin gelesen, Staat und Revolution“, er zeigte auf einen Band im Regal: „Da wußte ich, das ist es! Man muß den Staat zerschlagen, zerbrechen!“ Ich nickte und Klaus fing an zu singen: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Ich nickte begeistert. Das ist der Stoff aus dem Revolutionäre sind! Aber er war noch nicht fertig. Denn er hatte auch Trotzki gelesen: „Und da wußte ich, Trotzki war der Mann, er hatte Recht, und ich bin Trotzkist geworden.“ Das kühlte meine Begeisterung für den Mann mit der Hasenscharte ein wenig ab. „Aber jetzt nicht mehr.“ Denn nachdem er irgendeine Schrift von Stalin gelesen hatte, er verriet mir nicht, welche, war Stalin für ihn plötzlich der Größte.

Nun war er auf der Zielgerade angekommen. „Aber das hier“, und drückte mir eine Broschüre in die Hand, die bis dahin von mir unbemerkt auf dem Tisch gelegen hatte: „Wenn du das hier liest, Alter, dann weißt du, du mußt jetzt zur Waffe greifen.“ Er gestikulierte leidenschaftlich mit beiden Händen: „Sofort, Alter, und das Schweinesystem wegballern!“ Ein Stapel hektographierte Blätter, DIN A4, oben links mit zwei Heftklammern zusammengehalten, oben in der Mitte der fünfzackige Stern mit der Maschinenpistole, ein Zitat von Mao Tse Tung, eine Überschrift, etwas mit bewaffnetem Kampf und revolutionärer Theorie – ein Papier der RAF, eindeutig. Ich schwitzte innerlich, ich war gekommen, um ihm eine Zeitung zu verkaufen und eventuell als Sympathisanten zu gewinnen, jetzt sollte ich von ihm für den bewaffneten Kampf der RAF gewonnen werden, ausgerechnet.

Einige Monate zuvor, an einem der Ostertage, ich war noch beim Bund, hatte ich nach langer Zeit wieder einmal den Weg in den Jazz-Club gefunden, saß an der Theke, plauderte mit der Ex-Freundin, die an dem Abend gerade bediente und mich, von einem Augenzwinkern begleitet, mit einer Siebzehnjährigen bekannt machte, kräftig, drall und süß, zwei Hocker weiter. Ich rutschte neben sie, ich fand sie im Gespräch noch symathischer, flirtete, was das Zeug hielt, und als sie mich am Ende des Abends fragte, ob ich sie nach Hause fahren könne, nach Stöckse, war ich bereit und hoffte, daß da noch etwas mehr ging. Aber außer einer harmlosen kleinen Knutscherei spielte sich nichts ab, sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem Kuß auf die Wange, und als ich zu Hause ankam, bemerkte ich, daß mir das Portemonnaie mit allen Papieren fehlte.

Jeder andere hätte das sofort gemeldet, aber ich sah keine Veranlassung dazu: Um in die Jägerkaserne zu kommen, brauchte ich keine Papiere, das zivile Wachpersonal kannte mich, der San=Bereich achtete auf gute Beziehungen zum gegenseitigen Vorteil mit den wirklich wichtigen Truppenteilen, Küche, Tankstelle, Wache, und versorgte die unter der Hand mit gängigen Medikamenten, Hämorrhoidensalbe, Autan, Valium, Schmerzmittel, einen Ausweis hatte ich schon lange nicht mehr vorzeigen müssen. Ich ließ mir fast zwei Monate Zeit für die Meldung. In diesen Wochen aber scheuchte die RAF mit den Bombenanschlägen ihrer Mai-Offensive alle auf; zuerst auf das Hauptquartier des V. Korps der US-Armee in Frankfurt: ein Toter, 13 Verletzte; dann Polizeidirektion Augsburg: 7 Verletzte; LKA München: 10 Verletzte; Auto-Attentat auf Richter Buddenburg: eine Verletzte; Springer-Verlagsgebäude in Hamburg: 15 Verletzte; Hauptquartier der 7. US-Armee in Heidelberg: 3 Tote. Überall hingen die Fahndungsplakate aus.

Fahndungsplakat 1972

Fahndungsplakat 1972

Mit Zungenspitzen-R geradebrecht: „Geworfen Bombe über Zaun, explodieren eine Stunde.“ Mit diesem nächtlichen Anruf aus einer Bierlaune heraus hatte ich die Jägerkaserne zusätzlich alarmiert. Der Kommandeur wurde aus dem Bett hochgescheucht, warf nur eine Uniformjacke über seinen Pyjama und gab in Hausschuhen, den Schäferhund an der kurzen Leine, Befehle, die zur Straße liegende Hälfte des San=Bereichs wurde hastig evakuiert, drei Patienten umgebettet, der Streifen am Zaun entlang abgesucht – und nichts gefunden.

In dieser angeheizten Stimmung meldete ich den Verlust meiner Papiere. Von meiner Geschichte glaubte man kein Wort, ich mußte beim Kompanieführer antreten, der mich sofort beschuldigte, ich habe meine Papiere an die RAF „veräußert“, man wisse, daß ich „diesen Kreisen“ nahestehe, ich solle besser alles sofort zugeben, ansonsten müsse man mich an den MAD übergeben. „Ob Sie bei denen fünf Tage Verhör überstehen“, er wiegte den Kopf langsam bedenkend hin und her: „Ich glaube eher nicht.“ Ich gab natürlich nichts zu, da hatte ich ein reines Gewissen, fürchtete aber doch, mein anonymer Anruf könne ans Tageslicht kommen und mir zum Verhängnis werden, ich wußte nicht, wie groß der Kreis der Mitwisser inzwischen war. Ob man mir am Ende glaubte oder nicht, weiß ich nicht, jedenfalls wurde ich nicht vom MAD verhört und bekam Ersatzpapiere ausgestellt.

Andreas Baader, Holger Meins, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Brigitte Mohnhaupt, Siegfried Hausner, Klaus Jünschke, Irmgard Möller, die gesamte Führungsriege der RAF hatte man inzwischen gefaßt, ich war bei der Bundeswehr entlassen und arbeitete auf dem Bau, hockte an diesem Abend an dem niedrigen Tisch mit einer heißen Erklärung der RAF in den Händen und der Furcht im Nacken, man könne mich damit erwischen und das zum Anlaß nehmen, unsere KPD/ML (eine von neun verschiedenen, die es damals gab, der Kampf gegeneinander um kleinste Abweichungen der „Linie“ im „Leben des Brian“ bestens karikiert) zu verbieten. Beobachtet und bespitzelt wurden wir, das hatte ich nach einem Besuch bei alten Bekannten erlebt, die bei der Konkurrenz der „A Null“ gelandet waren, als ich auf dem Heimweg von zwei Gestalten, die auf der anderen Straßenseite gewartet hatten, auffällig unauffällig verfolgt wurde, bis ich sie nach einer halben Stunde endlich abhängen konnte.

Wegen der Verbotsdrohung verhielten wir uns teilweise schon lächerlich konspirativ, kannten uns zum größten Teil nur unter Decknamen und redeten am Telefon nicht offen, mit der RAF in Verbindung gebracht zu werden, das wäre in unseren Augen das sichere Ende der Partei gewesen. „Das Proletariat muß los, morgen wieder malochen“, verabschiedete ich mich deshalb schnell, das RAF-Papier leuchtete verdächtig auf dem Beifahrersitz, ich hielt am nächsten Papierkorb, schaute nach allen Seiten und entsorgte dieses Pamphlet hastig, ein zeitgeschichtliches Dokument, deshalb bedaure ich das heute, schaute noch in den Rückspiegel, ob es nicht jemand womöglich noch herausholte.

Besucht habe ich ihn nicht wieder, aber am zweiten Septemberwochenende fuhr ich nach Hannover zum Altstadtfest und da sah ich den Mann mit der Hasenscharte noch einmal, auf der Wiese am Leineufer gegenüber vor der Bühne, auf der Heino & Knochen „Johnny, komm, wir fressen eine Leiche“ sangen, saß er im Kreis mit einigen Leuten aus der Kornstraße und von der „883 [acht acht drei] Hannover“, die einen Joint herumgehen ließen, hob kurz den Kopf und sah in meine Richtung, als wir uns gegenseitig bemerkten.

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