An diesem Mittwochnachmittag im Juli 1974 regnete es auch in Hannover, nicht nur in Frankfurt. Wir wollten uns das Weltmeisterschaftsspiel gegen Polen nicht wie das gegen Schweden in dieser Kneipe in der Lister Meile anschauen. Deshalb hatte ich mir in dem kleinen Radio- und Fernsehgeschäft um die Ecke einen Fernseher geliehen, gebraucht, Schwarz-Weiß, 52 cm, Zimmerantenne, dazu einen halben Kasten Lindener. Wolfgang „Jagger“ H. und seine Freundin Inge waren schon da, Dora, die Buchhändlerin lernte am Ende der Lister Meile, wollte nachkommen. Damals wohnte ich beim Kohlenhändler in der Sedanstraße unter dem Dach, ein Zimmer, Klo mit Waschbecken über den Dachboden, kein Warmwasser, keine Heizung, aber auch nur 150 Mark.
Was wir auch anstellten, auf welche Tasten wir drückten, an welchen Knöpfen wir drehten, wie wir auch mit unseren Fäusten aufs Gehäuse hämmerten: das Gerät wollte uns außer Schnee kein Bild zeigen, Ton gab es auch nicht, nur Rauschen. Es war schon fünf vor halb fünf. um halb sollte der Anpfiff sein. Panik kam auf. Inge behielt die Ruhe: „Zurückbringen, umtauschen.“ Ich schnappte mir das Gerät, die Treppen runter, durch den Regen um die Ecke in die Große Pfahlstraße, die beiden hinter mir her. Das Geschäft war geschlossen. Mittwochnachmittag, daran hatten wir nicht gedacht. Im Eilschritt brachte ich das Gerät zurück unters Dach, dann hetzten wir weiter durch die leergefegte Lister Meile im Regen zur Fernsehkneipe. Als wir durchnäßt ankamen, war es schon fünf Uhr, eine halbe Stunde zu spät. Aber weil in Frankfurt ein Wolkenbruch das Spielfeld in einen See verwandelt hatte und die Feuerwehr so lange brauchte, es einigermaßen bespielbar zu machen, wurde das Spiel gerade in dem Moment angepfiffen, als wir uns setzten. In der 76. Minute schoß Gerd Müller zum 1:0 ein und alle Aufregung war vergessen.
Bis zur Fußballweltmeisterschaft 1974 hatten wir zu Hause keinen Fernseher. Bücher hatten wir und Zeitungen: die „Hannoversche Presse“, die war sozialdemokratisch, die Harke nicht, die war meinem Vater zu weit rechts, dann die „Hören und Sehen“ fürs Radioprogramm und später auch den „Stern“. Und wir hatten ein Radio, es stand in der Stube auf der Anrichte, ein Nordmende mit einem magischen Auge, das anzeigte, ob der Sender genau eingestellt war.
Das „Echo des Tages“, immer nach dem Abendessen, und der „Internationale Frühschoppen“ am Sonntag vor dem Mittagessen brachten uns das Weltgeschehen ins Haus, zur Unterhaltung am Sonnabend während des Bohnerns und des Schuheputzens Hermann Hoffmanns „Kleine Dachkammermusik“, der Abend gehörte Sendungen wie „17 und 4“ mit Robert Lembke, der Funklotterie „Ja oder Nein“ oder bunten Abenden mit Peter Frankenfeld und Lonny Kellner. Vor allem aber Hörspiele, Hörspiele, Hörspiele: „Draußen vor der Tür“, „Dickie Dick Dickens“, wir waren süchtig nach den Geschichten mit dem Gangsterboss von Chicago, Effi Marconi und Opa Crackle, auch an eine Hörfassung von Arno Schmidts „Tina“ kann ich mich entsinnen.
Am Sonntagnachmittag zogen wir dann zu fünft bis zu neunt los, bei anderen Leuten fernzusehen: Lassie, Fury, Rin Tin Tin. Entweder zu den alten Mays, die ließen uns immer in ihre Stube, egal, wie groß unser Haufen war, aber als erste Hürde war der schon auf der Straße herumspringende und wütend kläffende Spitz zu überwinden, der es ausgerechnet auf meine Hosenbeine und meine Waden abgesehen hatte und die anderen schonte, außerdem roch es bei den beiden alten Leuten immer nach abgestandener Pisse.
Oder zum alten Scheffler. Aber das sahen unsere Eltern nicht so gerne. Der wohnte in einer riesigen Einzimmerwohnung, einer umgebauten Scheune, vier Stühle für uns Kinder am Fußende des Bettes, der Fernseher an der Wand gegenüber, der alte Scheffler lag immer im Bett, meist mit seiner Geliebten, Einemarkfünfzig hieß sie im Dorf, weil das angeblich ihr Tarif war, dann konnten wir uns kaum entscheiden, wohin wir schauen sollten, auf die spannenden Filme vor uns auf der Mattscheibe oder auf das Geschehen unter den Laken im Bett hinter uns.
An normalen Wochentagen konnten wir nur zu den Otts, ein kinderloses Ehepaar, das in einem Behelfsheim am Osterberg wohnte, einem märchenhaften Holzhäuschen, die waren freundlich, ließen uns aber nur sehr selten hinein, und wenn, dann höchstens zu dritt.
Die Zahl der Fernsehgeräte im Dorf wuchs, unsere Trupps wurden immer kleiner, am Ende zogen mein Bruder und ich nur noch allein los und wurden von den Leuten fast mitleidig angeschaut. Dann schaffte sich der jüngste Bruder meiner Mutter, Onkel Alfred, einen Fernseher an, und es wurde zum guten Brauch, dort fast jeden Sonntag mit allen Zweigen unserer großen Familie aufzukreuzen, unangenehm nur, daß ich auch auf dem Weg dorthin am bissigen Spitz der Familie May vorbeimußte.
Die Tante servierte Kaffee, für uns Kinder, fünf insgesamt, nur halb und halb, und fette Buttercremetorten, und während der in grünes Dschungellicht getauchte Zimmerspringbrunnen vor sich hin plätscherte, lief der Fernseher: Filme mit Hans Moser und Heinz Rühmann und, weil er auch Ostzone empfangen konnte, eine ungarische Miniserie, die im 2. Weltkrieg spielte – Kinder beteiligen sich am Widerstand gegen Wehrmacht, SS und Pfeilkreuzler – oder „Wolf unter Wölfen“ – die Szene mit der erzwungenen Champagnerorgie im Hotel gefiel mir so gut, daß ich begann, Fallada zu lesen. Wenn sie um einen dritten Mann verlegen waren, wurde ich auch vom Fernseher weg in die kleine Stube befohlen, wo mein Vater und Onkel Manfred Skat um Zehntel spielten und mich um mein Taschengeld brachten.
Bald waren wir wohl die einzige Familie im Dorf ohne Fernseher, außer uns nur noch das greise Ehepaar in der Nachbarschaft meiner Oma Berta, die „nie geklebt hatten“, als Knecht und Magd größtenteils mit Deputat entlohnt wurden, im Alter nun bittere Armut litten und sich kein Gerät leisten konnten. Mein Vater weigerte sich beharrlich. Einschränkungen beim Rauchen, beim Essen oder bei den Büchern, nur um auf einen Fernseher zu sparen, kamen für ihn nicht in Frage. „Außerdem, ich kenne mich doch, dann hocke ich nur noch vor der Glotze und verblöde wie die anderen.“ Das wollten wir doch sicher nicht, daß es dazu komme. Erst im Jahr der Fußballweltmeisterschaft gab er seinen Widerstand auf und genehmigte ein Schwarz-Weiß-Gerät.
So saßen dann mein Vater, mein Bruder und ich am 7. Juli in der heimatlichen Stube einträchtig nebeneinander auf dem Sofa, schauten das Endspiel und genehmigten uns, wie vorher vereinbart, für jedes Tor, das die deutsche Mannschaft gegen Holland schoß, einen Cognac und eine Zigarre. Nach der Pleite mit dem Leihgerät schaffte ich mir übrigens einen eigenen Fernseher erst sieben Jahre später an, als ich mit meiner späteren Frau zusammenzog.