Lichte Momente 4: Brainticket

„Diese Reise werdet ihr niemals vergessen. Das verspreche ich euch.“

Meyer saß an dem Tisch in der Mitte und faßte die Langspielplatte, Brainticket, die er gerade auf das Koffergerät auflegte, vorsichtig mit den Fingerkuppen beider Hände am Rand, als sei sie ein Heiligtum. Wir, Ruppert, Gerd C. und ich lagen auf fremden Betten in Meyers Stube, nicht in der Jägerkaserne, sondern auf dem Flugplatz, man hielt uns für betrunken – ich mußte mir in die Fingerknöchel beißen, um nicht mit der wahren Natur unseres Rausches herauszuplatzen – und hatte uns erlaubt, dort „weiterzufeiern“.

Die Nadel setzte kaum hörbar in die Rille und Meyer löschte das Licht.

Brainticket und Meyers Worte führten uns erst ins Weltall, höher und höher, die Unendlichkeit war zum Greifen nah. Meyer schlug mit einem Schlüssel gegen einen Bettpfosten, die Sterne verwandelten sich in hell klingende Töne und das Universum wurde von einem Totenschädel aus Silberblech umhüllt, es sei unser eigener, ließ er uns wissen. Nun setzte er einen Bohrer an, der Löcher in unsere Schädeldecke fraß, durch die unser Hirn nach außen gezogen werden sollte.

„Aufhören! Du hattest uns eine schöne Reise versprochen.“
„Die sollt ihr haben.“

Meyer führte uns in eine riesige unterirdische Höhle mit leuchtenden Wänden und angefüllt mit den Klängen von Brainticket. Es ging tiefer hinein in die Höhle, die Wände verengten sich langsam, die Decke senkte sich allmählich, das Leuchten wandelte sich in ein feuchtes Grau, der Boden verlor an Festigkeit, lehmig zuerst, dann schlammig, mit jedem Schritt gerieten wir tiefer hinein, zum Schluß hatte er sich in eine übel stinkende Jauche verwandelt, in der Exkremente herumschwammen. Als mir die bis zum Hals stand und das erste Stück Scheiße in den Mund zu schwimmen drohte, stieg ich aus, still, ohne Protest einzulegen wie Ruppert beim Ansetzen des Bohrers, blendete die Stimme Meyers einfach aus und spielte meinen eigenen Film ab.

Ich weiß nicht, wie oft Meyer die Platte noch umgedreht hatte, ich weiß nicht, wie lange die beiden anderen noch in seiner Hand waren, jedenfalls begann es irgendwann zu dämmern, eine bleierne Stille lag über dem Raum und Meyer schlug vor, es war eher ein Befehl, nach draußen zu gehen und den neuen Tag zu begrüßen. Wir stiegen in seinen Kadett, nahmen den kurzen Weg über das Nordtor, bei Scheie hielt Meyer an, müde, leer und fröstelnd fanden wir uns am Rande eines Ackers wieder, alle, bis auf Gerd.

Der war immer noch abwesend, stand verloren da in seinen Gummistiefeln, keine Designermodelle, die gab es 1971 noch nicht, richtige schwarze Bauerngummistiefel, die er immer trug, wenn er nicht im Dienst war, selbst das Kanbach kannte ihn nicht ohne. Meyer holte ein Wurstbrot aus seiner Jackentasche, das er sich vom Abendbrot aufgehoben hatte, wickelte es aus und hielt es Gerd vor die Nase. Der wollte zugreifen, aber Meyer lachte nur und zog es wieder zurück. Gerd machte einen Schritt auf ihn zu. Meyer hielt das Wurstbrot nach links, Gerd bewegte sich nach links, nach rechts, Gerd wechselte die Richtung, Meyer ging zwei Schritte zurück, Gerd folgte, ein Schritt vorwärts, Gerd wich zurück, so ging es fast eine Viertelstunde, nach links, nach rechts, vorwärts, rückwärts, Gerd allen Bewegungen mit einen halben Meter Abstand zum Wurstbrot hinterher wie ein gehorsames Hündchen, bis Meyer die Stulle vor seinen Augen langsam und mit sichtbarem Behagen aufaß, ohne ihm einen einzigen Bissen davon abzugeben.

Am Abend hielten wir Rat. Wir beschlossen erstens, daß Meyer ein Schwein war – wie sich herausstellte, hatte er selbst keinen Trip eingeworfen und gar keine Entschuldigung mehr für sein Verhalten – und zweitens, daß Gerd zu schwach war, weiter irgendwelches Zeug zu sich zu nehmen, Cannabis, LSD, Kokain, härteres, gleichgültig, was, und wir ihn auf der Stelle erschössen, sollte er in Zukunft auch nur ein einziges Mal gegen unser Verbot verstoßen. Wir meinten es ernst. Das wußte er auch und hielt sich daran, zumindest, solange wir beim Bund waren.

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