Meinem Bruder gelang es gerade noch, sich mit zwei Sprüngen auf den Bürgersteig zu retten. Ich blieb, warum, weiß ich auch nicht mehr, allein mitten auf der Kreuzung zurück, fand mich plötzlich von sieben Bullen umzingelt, die versuchten, mich festzunehmen, und führte den Tanz meines Lebens auf. Vorwärts, seitwärts, halbe Drehung, rückwärts, hampelnd mit pendelndem Oberkörper, ein Schlagstock traf mich am linken Arm, den Hieb auf meinen Bundeswehrstahlhelm nahm ich nur als Klingen wahr, ein Schlagstock traf rechts neben mir ins Leere, der Bulle verlor das Gleichgewicht und mußte den Sturz mit beiden Händen abfangen, seinen Kollegen stieß ich beiseite, dann war auch ich frei.
„Straße frei für die kommunistische Partei“, hatten wir gebrüllt, wild entschlossen, es an diesem 2. September 1972, einem Samstag, den Bonner Militaristen einmal richtig zu zeigen und die Bannmeile um die Olympischen Spiele zu durchbrechen. Es waren aber mehrere kommunistische Parteien, die zum „Roten Antikriegstag“ aufgerufen hatten und sich gegenseitig diesen Anspruch streitig machten. Was uns an diesem Tag einigte, war der Kampf gegen die „neuen Kriegsvorbereitungen“, wir zogen Parallelen zwischen 1936 und 1972, die Münchener Olympiade spiele „in den finsteren Plänen Bonns eine wichtige Rolle. Den Völkern der Welt soll hier ein angeblich strahlendes, mächtiges, aber friedliebendes Westdeutschland vorgegaukelt werden.“
Am Karlstor sollte der Durchbruch erfolgen, die Demonstration verlief aber völlig chaotisch und undiszipliniert. So kam es nur zu vereinzelten Scharmützeln, bei denen wir natürlichen gegenüber dem massiven und bestens organisatierten Einsatz von Polizei und Bundesgrenzschutz den Kürzeren zogen. Zwei Dutzend Genossen wurden verhaftet und vor Gericht gestellt, „Schwerer Landfriedensbruch“, „Schwerer Widerstand gegen die Staatsgewalt“, „Schwere Körperverletzung“ „Hochverrat“, „Verstoß gegen das Waffengesetz“ lauteten die Anklagen. Der Überfall des „Schwarzen September“ drei Tage später auf das Olympische Dorf, die Geiselnahme und das schreckliche Ende auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck wirkte sich auf die Prozesse aus und führte zu unverhältnismäßig harten Strafen. So wurde Bernd Reiser, nein, nicht mit Rio verwandt, der hieß mit bürgerlichem Namen ja Möbius, zu 12 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.
Ich aber war durch meinen Veitstanz diesem Schicksal glücklich entronnen, und nicht nur ich, es hatte auch niemanden aus unserem Bus erwischt. So konnte ich auf der Rückfahrt ungehemmt faseln, von besserer Organisation und Ausrüstung bei der nächsten Auseinandersetzung, von Schutzschilden und Kleidung aus Asbest auf unserer Seite, bis die anderen, die damals schon klüger waren als ich, mir das Wort abschnitten und mich aufforderten, die „Sache“, damit meinten sie die Revolution, doch endlich einmal politisch anzugehen und nicht bloß militärisch.
Schönes Resümee.