Seume? Spaziergang? Warten Sie … das müßte … hier … warten Sie … das haben wir gleich.
Barry und ich schauten uns fragend an, als der alte Mann zielgerichtet zu einem der Stapel schlurfte, in denen sich die Bücher an der Wand rechts hinter der Kasse in Doppelreihen türmten. Diese Buchhandlung und dieser Buchhändler schienen aus einer anderen Welt als der uns bis dahin bekannten.
Schulbücher und auch meine Karl-May-Bände, ich konnte mir nur die billigen Ueberreuter-Taschenbuchausgaben leisten, besorgte ich mir bei Hanna Vorschulte, auch in der Jahnstraße, nur wenige Schritte entfernt im Haus der Mosterei Uhlenhoff, anspruchsvollere Literatur lieh ich in der Stadtbibliothek aus. Zwei Bände pro Quartal kamen vom Jugendlesering dazu, das bezahlte mein Vater, einzige Auflage, es durften keine ausgesprochenen Kinder- oder Jugendbücher sein, die hätte ich vom Taschengeld abzwacken müssen, nur etwas „Vernünftiges“ mit Biß, was er selbst auch lesen mochte, also Kipling, Hemingway, Bergengruen, Jules Verne.
Sehr selten, und das sollte auch über die Jahrzehnte so bleiben, kaufte ich etwas bei Leseberg, dem größten Buchhändler der Stadt. Jack Kerouacs „Unterwegs“ allerdings hatten sich Barry und ich dort besorgt, und jetzt waren wir auf den Geschmack gekommen und wollten den Trip in die Vergangenheit fortsetzen, zu den Wurzeln solcher Lebensart, zu Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Am ehesten, verriet uns Rudolf, der uns auch auf die Fährte von Kerouac gesetzt hatte, kenne noch der alte Ulrich dieses Werk und habe es vielleicht sogar auf Lager. So standen wir nun in seiner Buchhandlung und wunderten uns.
Und diesem Mann waren nicht nur Seume und sein Spaziergang ein Begriff, er hatte ihn sogar auf Lager, und – zu unserer größten Verblüffung – fand ihn in dieser rätselhaften Ordnung der vom Boden fast mannshoch aufgetürmten Bücherstapel auf Anhieb.
Seume … Spaziergang … warten Sie … das haben wir gleich … ja, hier … aber nur noch einmal.
Er zog das dritte Buch von unten so geschickt aus einem der hinteren Stapel, daß der Turm kaum wankte. Ich ließ Barry den Vortritt und bestellte für mich ein weiteres Exemplar. Als ich es abholte, hatte Barry seinen Spaziergang schon verschlungen und kam mit, um nach den „Apokryphen“ zu fragen. „Warum sagen Sie das nicht gleich, die habe ich doch auch da“, und zog sie aus einem anderen Stapel.
Als man mir weder im Kiosk in der Markthalle noch in der Bahnhofsbuchhandlung die „Star Club News“ besorgen konnte, versuchte ich es wieder bei Heinz Ulrich. Für ihn war es kein Problem und so holte ich mir von da an jeden Monat ein druckfrisches Exemplars dieses Musikmagazins bei ihm ab, aber nicht lange, denn die „Star Club News“ gab es bald nicht mehr, sie gingen in der „Sounds“ auf. Schnell war Heinz Ulrich mein Lieferant für alles, was regelmäßig erschien und mir lieb und teuer war: Enno Patalas‘ „Filmkritik“ bezog ich über ihn, ebenso wie die Spectaculum-Bände mit den angesagten Theaterstücken der Saison und Wagenbachs Tintenfisch. Ich hatte die Bände immer sofort nach Erscheinen in der Hand, mußte aber, da der alte Ulrich Buchhändler von Berufung, aber kein Geschäftsmann war, und er ein Herz für arme literaturbegeisterte Schüler hatte, nicht ebenso prompt bezahlen, wobei ich ihn so manches Mal auf eine lange Geduldsprobe stellte.
Als ich dann nach einem Jahrzehnt, in dem ich selbst „unterwegs“ war und in verschiedenartiges Leben eintauchte, wieder zurück an die Weser kam, gab es diese beste aller Buchhandlungen leider nicht mehr lange. Die Jahnstraße wurde zur Fußgängerzone, der Vermieter wollte mehr herausschlagen, als der inzwischen greise Heinz Ulrich zahlen konnte, ihm wurde gekündigt und er mußte, obwohl dieses Gebaren in der Lokalpresse als Unrecht angeprangert wurde, aufgeben. Ein Samengeschäft zog ein. Dort, wo sich vorher die Bücher gestapelt hatten, wurden nun Rasenkantenscheren und Guanodünger verkauft. Inzwischen mußte auch dieser Laden einem ordinären Schuhgeschäft weichen.
Am schlimmsten aber ist, wie ich bei meinem letzten Besuch an der Weser feststellen mußte, daß es jetzt keinen einzigen Buchhändler mehr in der Stadt gibt, nicht mehr Lutger, der in den eineinhalb Jahrzehnten, in denen ich sein Kunde war, stets eher als ich wußte, mit welchem Buch in der Hand ich seine Bücherbutze verlassen würde, und auch Leseberg als einst größten Buchhändler nicht mehr, nur noch eine Weltbild-Filiale.
In meinen unaufgeräumten Schubalden fand ich einen Nachruf auf Heinz Ulrich, ich weiß nicht mehr, wo er erschien (wahrscheinlich in der Nienburger Harke), und vom wem der Nachruf geschrieben wurde. Hier ist der Text:
Heinz Ulrich ⴕ
Buchhändler Heinz Ulrich ist gestorben, ein Mann, der über Jahrzehnte für Nienburg eine kulturelle Institution war, weil er den Büchern diente und damit dem Geist wegen seiner literarischen Kenntnisse ein gute Berater war.
Heinz Ulrich hatte immer Zeit für seine Kunden. Er las ihnen den Wunsch von den Augen ab und konnte ihn spätestens beim zweiten Griff in die manchmal nicht so ordentlichen Regale und Bücherstapel erfüllen. Sein Bücherladen verbreitete immer eine Spitzweg-Atmosphäre, Bücher waren seine Welt.
Der gebürtige Nienburger besuchte nach dem Abitur an der heutigen ASS in Leipzig die Buchhändler-Lehranstalt, war danach bei Schmorl & von Seefeld in Hannover und dann in Stettin tätig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Heinz Ulrich nach Nienburg zurück und baute in der Jahnstaße/Ecke Hakenstraße seien bibliothekekartige Buchhandlung auf, die sich durch das Angebot schöngeistiger Literatur auszeichnete.
Mitte März 1980 ging ein Stück Nienburger Kulturgeschichte zu Ende, als Heinz Ulrich wegen Krankheit seine Buchhandlung aufgab und einige Jahre Später zu seinem Sohn nach Berlin zog, der dort eine Pfarrstelle innehat.
Die Erinnerung bleibt an einen liebenswerten Menschen, der ein Alter von fast 86 Jahren erreichte, der bis in die Nacht mit seinen Freunden bei Einem guten Tropfen Wein diskutierten konnte und an einen hervorragenden Literaten.
EP