Immer, wenn ich nach Feierabend zur Abwechslung einmal meine Eltern besuchen wollte, fuhr ich diesen Schleichweg der Erinnerungen: runter von der Bundesstraße, durch Schessinghausen und den Bruch über den Meerbach und den unbeschrankten Bahnübergang hinein ins heimatlich Gruselige. Oder gruselig Heimatliche? Sei’s drum.
Unmittelbar hinter der Bahn begann es sich zu entfalten. Links der Kiefernwald, rechts die Siedlungshäuschen aus den 50ern, im ersten wohnt wohl immer noch mein Freund Richard, sein Vater hat dort seine Mutter mit einem Taschenmesser umgebracht, er seiner ersten Frau im Liebesrausch einen Nippel abgebissen, die Häuser meiner Onkel, Tanten, Cousinen, blitzsauber, gepflegt, Kühlhaus, Schützenhaus, das Dorfgemeinschaftshaus auf dem Gelände der ehemaligen Sauerkrautfabrik. Und nur, weil ich an diesem Tag nicht an meinem Geburtshaus abgebogen bin, Friedhof und Kunststoffklitsche links liegen gelassen habe, wurde mir unten an der Kreuzung, wo die Bundesstraße das Dorf in Ober- und Unterdorf zerschneidet, diese göttliche Szene geboten.
Genau dort, wo einst der Laden von Brandts Louise nebst Poststelle und Kohlenhandel sowie Kastanien- und Eichelankauf stand, bewegte Karl M. auf dem Feldweg eine Schubkarre mit Mist in Richtung Friedhof, gut genährt, wie immer in dunklem Anzug, weißem Hemd und dezent gemusterter Krawatte mit doppeltem Windsor, sein einziges Zugeständnis an den Mist, den er karrte, waren die Gunmmistiefel an seinen Füßen.
Karl gehörte an diesen Ort, ohne Zweifel, das war seine Kreuzung. Schon, als ich noch die gegenüberliegende Zwergschule – 1. bis 4. Klasse bei Lehrer Marquardt, 5. bis 8. Klasse bei Lehrer Goschke – besuchte, stand er bei Brandts Louise hinter der Ladentheke und verkaufte uns lose Sahnebonbons für zwei Pfennig das Stück aus dem großen Glas, wenn wir uns in der großen Pause heimlich über die gefährliche Bundesstraße geschlichen hatten. Oder er war in der Poststelle im Nebenzimmer zu finden und Ilona, die sich mit ihrer Farah-Diba-Frisur für die schönste Frau des Dorfes hielt und mit Karl verheiratet war, verkaufte uns Bonbons oder Wundertüten mit Sigurd-Piccolos. Womit Karl auch beschäftigt war und wo er sich auch gerade aufhielt, stets trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, der ihm wie eine zweite Haut war und in dem er geboren schien.
Als sich der Nachfolger von Brandts Louise von seinen Geschäften trennte, übernahm Karl den Laden, und als wenig später die alte Dame starb, wurde das Haus abgerissen und Karl baute schräg gegenüber einen Supermarkt einschließlich Postamt und einer großzügigen Wohnung im ersten Stock.
Karls große Zeit begann. Ihm gehörte das einzige Lebensmittelgeschäft im Dorf und gleichzeitig leitete er die Poststelle als Beamter. Zu dieser Zeit lohnte es sich, von ihm als Freund angesehen zu werden. Dann mußte man sich im Sandkrug oder in der Linde nur zu ihm setzen und konnte den ganzen Abend saufen, ohne auch nur einen einzigen Pfennig dazubezahlen zu müssen. Ebenso bei den beiden Schützenfesten und beim Kirmes. Am Sonntagmorgens traf man sich in seinem Getränkelager zum Frühschoppen, setzte sich einfach auf die Bierkisten und griff unter sich, wenn man Durst verspürte.
Das Nachtleben in der Kreisstadt war ohne Karl und seinen Freundeskreis auch nicht denkbar, erst in der Bodega-Bar und, als die dann schloß, in der Stern-Bar – aber die strahlte die trostlose Atmosphäre eines Wartesaals dritter Klasse aus mit Animierdamen, die einen Flunsch zogen, wenn man sich ihnen näherte. Wenn die Horde um Karl also etwas mehr wollte, als sich zu besaufen, zog sie weiter ins Eros-Center am Berge, das von der Kaserne bequem über die Fußgängerbrücke zu erreichen war. Und auch hier war Karl großzügig und bezahlte stets die gesamte Rechnung. Dazu fuhr er noch jedes dritte Wochenende nach Polen, wo er eine Geliebte sitzen hatte, von der seine Frau aber nichts wissen durfte.
Ein Leben in Saus und Braus, von Freunden und Frauen umschwirrt, von den Männern im Dorf beneidet. Und jetzt schob dieser Mann schwitzend eine Karre mit Mist den Feldweg entlang und der Supermarkt sah merkwürdig leer und geschlossen aus, obwohl es noch lange nicht 18 Uhr war. Meine Mutter wußte, wie es dazu kam.
Als die Geschäfte für Dorfläden immer schlechter liefen, sah Karl es nicht ein, seinen ausschweifenden Lebenswandel etwas einzuschränken, er hatte ja noch seinen Beamtenposten und konnte lange von der Substanz zehren, und als die aufgebraucht war, machte er eben Schulden. Um doch wieder auf den grünen Zweig zu kommen, spielte er jede Woche für mehrere hundert Mark Lotto, aber der große Treffer wollte nicht glücken und die Schulden wuchsen umso schneller. Deshalb löste er das mehrere tausend Mark schwere Sparbuch der Enkeltochter auf, auch dieses Geld war schnell wieder verbraucht. Die Lieferanten wollten inzwischen nur noch Bargeld sehen und seine Verkäuferinnen bemühten sich deshalb jeden Abend, die Kasse vor Karl in Sicherheit zu bringen, um am nächsten Morgen die Ware bezahlen zu können und dem Dorf die Einkaufsquelle zu erhalten, solange es irgendwie ging.
Im letzten Akt bediente sich Karl bei der Post, leitete das Geld, das für Nachnahmesendungen kassiert wurde, nicht weiter, sondern finanzierte damit seine Lotto-Systemscheine. Diese Unterschlagung flog sehr schnell auf, Karl wurde suspendiert, kam vor Gericht, wurde wegen Betrugs verurteilt und verlor dadurch nicht nur sein Geschäft, sondern auch noch die sichere Beamtenstellung, das Dorf das einzige Lebensmittelgeschäft und die Poststelle. Das Gebäude, in dem einige Jahre der Kindergarten untergebracht war, ist inzwischen an eine „Pizzeria Ivana“ verpachtet.
Karl hatte zwar alles verloren, nicht aber seine Haltung und seinen angeborenen Anzug. Den trug er nun tagsüber, wenn er für ein paar barmherzige Flaschen Bier einem Mondscheinbauern bei dessen Landwirtschaft helfen durfte, und nachts wieder in der Stern-Bar, jetzt allerdings nicht mehr als Stammgast vor der Theke, sondern als Schankkellner dahinter.