Meine sehr verehrten Damen und Herrn. Es ist 22 Uhr. Sollten sich hier kleine Mädchen beziehungsweise lüttsche Jungs unter 16 aufhalten, bitte ich sofort das Lokal zu verlassen. Ich erinnere Jugendschutzgesetz.
Bei dieser ersten Durchsage des Abends bekam er die Worte noch einwandfrei aneinandergereiht. Später stieg mit dem Alkoholpegel auch der Unterhaltungswert. Onkel Willi, Wirt eines Dorfgasthauses am Steinhuder Meer, das sich Anfang der 70er zu einem der beliebtesten Szenetreffpunkte der Region entwickelt hatte. In Hannover, Bremen und Bielefeld wartete die Drogen konsumierende und Krautrock hörende Jugend vor den einschlägigen Diskotheken und bettelte um Mitfahrgelegenheit nach Münchehagen.
In den 30ern hatte sich Onkel Willi wenig um Volk, Führer und Vaterland geschert, sondern ist lieber mit seiner Harley Davidson über die masurischen Alleen gebraust. Nach dem Krieg verschlug es ihn ans Steinhuder Meer, wo er dann Weihnachten 1963 im Münchehagener Hof mit seiner Tante Martha die Musikkneipe Kanbach eröffnet. Anfangs spielten dort jeden Samstagabend Beatgruppen auf, was den üblen Ruf des Lokals begründete.
Die Dorfjugend ging im schönsten Sonntagsanzug zu solchen Veranstaltungen und schlug sich als Höhepunkt auf dem damals noch unbefestigten Parkplatz die Nasen blutig, gab die verdreckte Kleidung am Montag in die Reinigung, um am nächsten Wochenende das Spiel von vorne zu beginnen. Wenn die Musik nicht gefiel, wurde zur Abwechslung die Band aus dem Saal geprügelt, wenn die Musik gefiel, durften die Jungs mit der Gunst von Onkel Willis jüngster Tochter rechnen. Ein Klassenkamerad, der später in einer schlagenden Verbindung landete, berichtete, er sei glücklich durch den Vorraum gelangt, aber bei Betreten des Saals jemandem in die Quere gekommen und nach zwei Sekunden durch beide Türen in hohem Bogen auf die Straße geflogen. Das genügte, um mich lange von diesem üblen Ort fernzuhalten.
Meine Damen, Herren. Geschäft ist Geschäft. Und ich spreche jetzt gegen mein Geschäft. Wir haben Fanta, Cola, Brause. Alkohol am Steuer. Führerschein. Ein Führerschein ist schnell erworben, aber noch schneller verloren.
Die zweite Ansage des Abends, immer kurz vor Mitternacht, war schon weniger verständlich. Man war größtenteils anders berauscht und belachte die Warnung. Onkel Willi hatte es zwischenzeitlich aufgegeben, Bands spielen zu lassen, und stattdessen zwei Discjockeys verpflichtet, die in der hannoverschen Krautrockszene (Eloy, Jane, Dull Knife) verankert waren, und hatte dem Laden ein einzigartiges Konzept verpaßt: kein Eintritt, kein Verzehrzwang, der Ansturm allein bewältigt von Onkel Willi (huldvoll schwankend dirigierend), Tante Martha (Frikadellen und Pommes), zwei Töchtern nebst Schwiegersöhnen und dem kleinen schwulen Kellner, der den ganzen Abend nicht zur Ruhe kam.
Unten tranken die meisten Besucher nur Cola, trotzdem floß das Bier in Strömen: war ein Faß angestochen, wurden die Gläser darunter weggeschoben, bis es leer war. Der Bierumsatz von einem einzigen Samstag hätte mir gereicht. Oben war es etwas ruhiger und es gab vor allem Urbock aus Flaschen.
Und es war immer rammelvoll. Vor dem Eingang die Leute, die dir etwas verkaufen wollten. „Bester Afghane!“ „Acid!“ „Koks!“ „Ädsch!“ „Nur Jesus macht wirklich high, Alter!“
Nichts in der spießigen Einrichtung unterschied das Kanbach von anderen Dorfgasthöfen mit Saal und ließ auf eine Szenediskothek schließen. Vorne rechts neben der Tanzfläche die kleine Fixerecke. In eine hatte ich mich verguckt, die wirkte aber unnahbar. Nur, wenn Stolle nach Mitternacht den Bolero auflegte, betrat sie die Tanzfläche und alle machten ehrfürchtig Platz, selbst ich, der sonst immer mehrere Quadratmeter für sich beanspruchte.
Im Gang dahinter die Kiffer, links daneben und auf den Tischen an der Stirn der Tanzfläche die Leute, mit denen ich mich herumtrieb. Links neben der Tanzfläche die Theke, im Gang dahinter Kicker und Billard, an diesen Plätzen hielt sich bevorzugt die einheimische Dorfjugend auf.
Und Onkel Willi bewegte sich in diesem bunten Haufen wie ein Fisch im Wasser, majestätisch schlurfend und schwankend, stets in Filzpantoffeln. Es gab auch Gerüchte, in seiner Nähe solle es verdächtig süßlich gerochen haben, aber ich selbst habe das nie wahrgenommen und halte es auch für wenig wahrscheinlich.
Bella, bella, bella Marie,
häng‘ Dich auf,
ich schneid‘ Dich ab in der Früh‘.
Nicht immer, nur wenn er besonders gut drauf war, stellte sich Onkel Willi auf die Tanzfläche und gab diese Version der Capri-Fischer zum Besten.
Noch seltener war ein vierter Auftritt, zu dem er oft genug mitten in einem Stück die Musik unterbrechen ließ und herrisch vom Discjockey das Mikrofon orderte. Dann stellte er sich wieder mitten auf die Tanzfläche, und forderte die beiden „schönsten Mädchen“ auf, sich für einen „einmaligen Auftritt“ zu ihm zu gesellen. Hatten die sich gefunden, stellte er sie links und rechts neben sich auf und begann wie auf dem Fischmarkt.
Meine Damen und Herren. Beim ersten Mal sehen Sie nichts. Beim zweiten Mal sehen Sie gar nichts. Und beim dritten Mal sehen Sie, was Sie beim ersten und beim zweiten Mal nicht gesehen haben, nämlich überhaupt nichts! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Einmal, am Neujahrsmorgen 1972 um 3 Uhr in der Frühe gab es noch einen fünften Auftritt. Da torkelte Onkel Willi auf der Straße herum und sprach die Jugendschutzansage von 22 Uhr in ein leeres Colaglas.
Vielleicht war dieser Moment schon der Höhepunkt der Epoche. Das Publikum begann, sich langsam und fast unmerklich zu ändern. Aus den Großstädten fanden immer weniger den Weg, dafür rückten auch Leute nach, die nicht so friedlich gestimmt waren und denen nach körperlicher Auseinandersetzung war. Trotzdem blieb es noch meine zweite Heimat, hier verbrachte ich weiter möglichst vier Abende in der Woche, bis ich dann vier Jahre nach meinem Abitur doch noch anfing zu studieren und mich nach Göttingen aufmachte. Danach bin ich vielleicht noch ein halbes Dutzend Mal im Kanbach gewesen, aber Onkel Willi hatte man inzwischen zu Grabe getragen und ich habe ihn nie wieder erleben dürfen.
R.I.P.
Interessant das “Kanbach” wiederzufinden. Allerdings war ich nur zwei oder dreimal dort, aber dieser Schuppen in Münchehagen hatte einen legendären Ruf. Das muss so 1973 oder 1974 gewesen sein. Ich war später dort. Vielleicht 1975 oder 1976. Da war die Legende, glaube ich, schon vorbei. Ich erinnere mich aber an die relativ weiten nächtlichen Anreisen aus Schaumburg und die Rückfahrten in der Morgendämmerung. Wir waren damals im sogenannten “If” in Rodenberg. Ein kleiner Schuppen, der nach wenigen Jahren schliessen musste.