Café Perdoni

Wer sich für fortschrittlich hielt, Drogen nahm, politisch aktiv war, antiautoritär und links natürlich, etwas anderes zählte nicht, progressive Musik hörte, ging ins Marchioni in der Leinstraße. Dort trafen sich diese Szenen in rauchgeschwängerter Luft, es war immer voll, in der Musikbox gab es auch Hendrix, Zappa, Janis Joplin oder „Who Do You Love“ von Quicksilver Messenger Service.

Das Café von Ricco Perdoni nur vier Häuser weiter an der Ecke Carl-Schütte-Straße, vielleicht wäre ich nie hingegangen, aber als ich eines Mittags zum Bahnhof ging, erst noch gemeinsam mit Steffi und Rex, dann ein paar Meter bis zur Parkstraße allein mit Conny, und sie strahlte, ja, himmelte mich so unverschämt mit leicht geneigtem Blondkopf an, daß ich Mut faßte und sie um ein Treffen am nächsten Nachmittag bat. Zu Marchioni wollte sie nicht, da seien zu viele Leute, die uns kannten, blieb das Perdoni, da konnten unsere feuchten Hände halbwegs unbeobachtet zueinander finden. Wir trafen uns von diesem Tag an regelmäßig dort, erst nachmittags ein- oder zweimal in der Woche allein miteinander, dann, als sie mit Andreas Schluß gemacht hatte und nichts mehr verheimlicht werden mußte, fast täglich nach der Schule. Der Kreis erweiterte sich, blieb aber bis zum Schluß begrenzt auf Schüler der Klasse 12 ml der Albert-Schweitzer-Schule, Gymnasium für Jungen, Manni, Andreas, Moppel, Heiner, ich, und Schülerinnen der Klasse 11 a der Hindenburgschule, Gymnasium für Mädchen, Conny, Sabine, Steffi, Inge, Christine, Anke, beide Schulen nur getrennt durch den Stadtgraben und gegenseitig nur mit Passierscheinen betretbar.

Unser Stammtisch blieb der große runde Tisch hinten links in der Ecke, an den sich Conny und ich bei unserem ersten Rendezvous gesetzt hatten, so gut wie uneinsehbar von der Theke und den anderen Tischen im vorderen Teil, besser zu sehen von den Tischen im Gang der nach rechts abging, aber die waren höchstens am Wochenende besetzt. Die Leute auf Straße konnten wir durch das riesige Fenster gut beobachten, was uns dazu verleitete, mit der Beaulieu, die wir uns bei einem nächtlichen Abenteuer aus der Schule besorgt hatten, versteckte Kamera zu spielen. Wir legten rohe Eier auf den Gehsteig, immer nur eines auf einmal, und filmten die Passanten. Die meisten ignorierten die Eier, einige wichen ihnen vorsichtig aus, zwei warfen die Eier auf die Straße und erfreuten sich daran, wie sie zerplatzten, ein Mann hob das Ei auf, betrachtete es eingehend und mißtrauisch, sah sich verstohlen um, legte es vorsichtig auf den Gehsteig zurück, eine Frau mit einem Einkaufskorb hob das Ei auf und legte es in den Korb, als sei es das Selbstverständliche der Welt, rohe Eier auf dem Gehsteig zu finden, acht Minuten später auf dem Rückweg legte sie auch unser letztes Ei in ihren Korb, wieder ohne eine Miene zu verziehen.

Ricco Perdonis Vater Antonio war 1904 als Fünfundzwanzigjähriger nach Deutschland gekommen, hatte es als Terrazzoleger zu einigem Wohlstand gebracht und in den 1930ern sein Eiscafé eröffnet. Ob Ricco noch Terrazzo verlegen konnte oder nur Eis machen, müßte eigentlich mein Schwiegervater wissen, aber der lebt nicht mehr, die Geschäfte liefen jedenfalls längst nicht mehr so gut wie zu den Glanzzeiten.

Laila, nur die eine Nacht erwähle mich
Küsse mich und quäle mich
Denn ich liebe nur Dich
Oh Laila

Im Café Perdoni gab es keine Musikbox, nur um die Ecke auf einem Regal einen Plattenspieler und ein paar alte Schlagerplatten. Wenn der alte Perdoni nachmittags anwesend war und wir lange genug bettelten: „Die verbotene Platte, bitte, die verbotene Platte“, legte er „Laila“ von Bruno Majcherek & Die Regento Stars auf, 1961 42 Wochen an der Spitze der Hitparaden, von vielen Radiosendern boykottiert und zeitweise auf dem Index, und wir sangen den Refrain mit.

Riccos Frau, Vorname vergessen, größer als er, blond, hochtoupiert, eine stolze, warmherzige Erscheinung, war fast immer anzutreffen, während er oft seinen Hut vom Ständer nahm, aufsetzte, an die Krempe tippte und sich mit diesem leichten Gruß zum Plausch mit seinen italienischen Kollegen aufmachte.

Am Wochenende, nur selten in der Woche, war da noch Rita, dunkelhaarige, klein, mollig, allein, die Bedienung, die ein trauriges Geheimnis umgab. Einst war sie sehr kurz Riccos Freundin, doch wie der „Spiegel“ Nr. 51 von 1951 zu berichten wußte, war ihre dritte große Liebe, der Paketbombenattentäter Erich von Halacz, ihr Schicksal, er wurde kurz vor ihrer Verlobung verhaftet und auch ihr falsches Alibi konnte ihn nicht mehr retten.

Im Café Perdoni bediente die heute 19jährige Rita Biermann aus der Karl-Schütte-Straße, gegenüber dem Gaswerk. Mitte August 1951 sprach Erich das Mädchen zum ersten Mal: „Na, Sie kleines Biest, bringen Sie mir mal “ne Tasse Kaffee.“ Diese Anrede von Halacz gefiel ihr: „Es war so etwas anderes als sonst.“ Und als er noch sagte: „Wann treffen wir uns“, verabredete sie sich gleich nach Dienstschluß für den selben Abend. Rita: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Es war nicht die erste Liebe auf den ersten Blick der 19jährigen Rita. Ihre erste große Liebe war ein Lebkuchenfabrikant. Rita war nach ihrer Volksschulzeit zwei Jahre im Haushalt gewesen und reiste dann mit Verwandten, die Schausteller waren und auf den Jahrmärkten der Umgebung Süßigkeiten verkauften, durch Norddeutschland. Der Lebkuchenfabrikant immer mit. „Ja, wir hatten uns sehr gern.“ Rita war 16 Jahre alt.

Ihre zweite große Liebe war („Nach einem Intermezzo mit Eiskonditor Perdoni“) der Sohn eines Möbelfabrikanten. Rita: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Aber die Eltern waren dagegen. „Als ich einsah, daß es keinen Zweck mehr hatte, machte ich Schluß.“

Die dritte große Liebe war von Halacz. „Ich habe eben immer Pech mit meinen Männern.“

Erich nannte Rita „Baby“. Sie erzählt, daß er immer nett zu ihr war, so schön lachen konnte und immer viel erzählte. Rita, keine Leuchte des Geistes, sah in dem charmanten jungen Adligen den Mann, der sie zu dem „erstrebten Höheren“ führen würde. Wenn sie abends durch die Straßen bummelten, sagte von Halacz ihr, daß sie nur noch Pelze und große Abendkleider tragen würde. „Du sollst es gut bei mir haben.“

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ARD-Dokumentation „Post vom Tangojüngling“

Manchmal half auch die Tochter aus, Eva Maria Bianca Pia, rothaarig, stolz wie ihre Mutter, die auch wie Conny, Sabine, Steffi und Inge in die 11a ging und nicht verstand, wie wir uns in dieser Wohnzimmeratmospäre bei ihrem reaktionären Vater und seinen schrecklichen Schlagerplatten wohlfühlen konnten. Sie selbst ging nur ins Marchioni. Ihre Eltern hielten sie sehr streng und wehe, sie hätten jemals erfahren, daß sie manchmal nachts Herrenbesuch empfing, ich weiß es nur von Ahab, der zu den Auserwählten gehörte, die sich über den Hinterhof und eine Leiter in ihr Zimmer schleichen durften.

Als wir dann 1970 das Abitur geschafft hatten, feierten wir das Ereignis in größerer Runde im Café Perdoni, ließen die Sektkorken knallen, Ricco mußte „Laila“ auflegen, waren ausgelassen, bis dann plötzlich meine Mutter auftauchte, einen Brief in der Hand, der gerade angekommen war, vom Kreiswehrersatzamt, meine Einberufung, und zumindest meine Stimmung auf den Nullpunkt sinken ließ.

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Göttingen

Ein früher Freitagabend im Januar 1971, von Osnabrück bis Altenbeken fuhr wenigstens ein Bummelzug, dann mußte ich umsteigen und es ging noch langsamer voran. Eine schier endlose Fahrt durch Südniedersachsen, im Bus war es genauso dunkel und langweilig wie draußen, hin und wieder eine Ortschaft, trübe Straßenbeleuchtung, öde Haltestellen, Fachwerk und eternitvernageltes Fachwerk.

Vom Busbahnhof fragte ich mich durch zur Klinkerfuesstraße. Es gab ein Klingelschild, auf dem „Mierwald“ stand, unzweifelhaft, Gaggi wohnte hier, mit ihm und Ahab zusammen hatte ich ein paar Wochen vorher meinen ersten Trip eingeworfen, das Datum stimmte auch. Trotz Sturmklingeln, es war kalt, öffnete niemand, zurück in die Stadt, in den Nörgelbuff, den einzigen Ort in Göttingen, von dem ich schon gehört hatte. Im Spätsommer im Jazz-Club, als Rolf Linnemann aufgetreten war, zu nachmitternächtlicher Stunde, zwischen den Zugaben „Flipper, Flipper, der Freund aller Kinder“ und „Ja, die Lipper, die sind da“ hatte er von seinem eigenen Club in Göttingen erzählt, benannt nach dänischen Steintrollen. Wegen Andreas hatte ich nur Fetzen mitbekommen, er mußte uns während dieser Zwischenansagen unbedingt seinen fast unsichtbaren Bauchansatz präsentieren, der sei ihm in den paar Monaten seit dem Abitur als Ausweis seines Austritts aus der aufmüpfigen Unruhe der Jugend und nunmehr Eintritts in die behäbigere Erwachsenenwelt gewachsen. Ich hatte nichts dergleichen aufzuweisen damals, war in der Grundausbildung auf siebzig Kilo heruntertrainiert.

In der Groner Straße 23 am Aushangkasten, in dem für Freitagabend Blues angekündigt wurde, vorbei, eine Treppe hinunter. Der Keller war um diese Zeit noch fast leer, fest entschlossen, mir auch eine gutbürgerliche Plauze zuzulegen wie Andreas, trank ich schnell hintereinander zwei Bier, versuchte es danach noch einmal in der Klinkerfuesstraße, vergeblich.

Cause you know I’m here
Everybody knows I’m here
Yeah, you know I’m a hoochie coochie man
Everybody knows I’m here

Als ich zurückkam, war der Laden gut gefüllt und ein Farbiger mit starker Stimme spielte Chicago Blues am Klavier. Ich war beeindruckt und blieb, bis er den letzten Ton gespielt hatte und noch ein Bier darüber hinaus. Dann entschloß ich mich zur Heimfahrt.

Der Fahrplan sagte mir, daß der erste Zug Richtung Hannover erst in vier Stunden fuhr, die Bahnhofshalle kalt und abweisend, der Wartesaal geschlossen, links neben der Tür ein Getränkeautomat. Ich zog mir einen Tomatensaft, trank gerade den ersten Schluck, als mich ein Krawattenträger Ende dreißig, dunkler Mantel über dem Anzug, geputzte Schuhe, von der Seite anmachte: „Den trinke ich hier auch immer, der ist wirklich gut. Kann ich nur empfehlen.“ Es wäre doch „ungemütlich“, hier auf den ersten Morgenzug zu warten, die „Kupferkanne“ habe noch auf, da sei „noch was los“, keine Bange, ich sei eingeladen, Eintritt und Getränke übernehme er.

Wieder ging es eine Treppe hinunter in den Göttinger Untergrund. Dem Wächter am Einlaß gefiel mein Aufzug nicht: Jeans, kniehohe Wildlederstiefel, Pullover, Afghanenmantel, zumindest eine Krawatte solle ich mir umbinden. Mein Begleiter faltete einen Zwanzigmarkschein viermal und drückte ihn dem Türsteher in die Hand. Es sei schon nach Mitternacht, da solle er sich nicht so anstellen. Mit der Andeutung einer Verbeugung wurden wir durchgelassen. Die Musik, die Einrichtung, das Licht, die anderen Gäste, nichts an diesem Ort, angeblich eine Diskothek, gefiel mir, aber es war auch nicht mein Geld, das hier ausgegeben wurde, und besser als in der zugigen Bahnhofshalle war es allemal. Wir setzten uns an die Bar und tranken mehrere Chivas Regal.

Kurz nach elf weckte mich eine Autohupe. Ich lag vollständig bekleidet, nur mit einer dünnen Wolldecke bedeckt, auf einem schmalen Bett in einem Jugend- oder Gästezimmer, sprang auf und geriet sofort in Panik. Außer mir befand sich niemand in dieser mir unbekannten Dreizimmerwohnung. In der Küche eine volle Kanne Kaffee verlockend in der Maschine, noch sehr heiß, ich nahm den Filter herunter, holte eine Tasse aus dem Schrank, goß ein, trank sie hastig halb aus. Im Flur mein Afghanenmantel ordentlich am Haken, lose übergehängt, ein Griff an die Gesäßtasche, das Portemonnaie war noch da, raus aus der Wohnung, zwei Treppen hinunter, auf der letzten kam mir mein nächtlicher Begleiter entgegen, eine Brötchentüte in der Hand. „Muß los“, halblaut im Vorbeistürmen gemurmelt, schon war ich draußen auf der Straße. Um die Ecke eine Haltestelle, der Bus fünf Minuten später fuhr glücklicherweise in die richtige Richtung.

Fehlanzeige auch beim dritten Versuch in der Klinkerfuesstraße. Ich schlenderte nun bei Tageslicht über die Groner und die Weender Straße, im Bratwurstglöckle eine doppelte Wurst im Stehen, im Kino in der Kronenpassage lief in der Nachmittagskindervorstellung der erste Asterix, den ich noch nicht kannte, und half mir, siebzig Minuten unterhaltsam zu überbrücken. Als ich es fast schon aufgegeben hatte und nur noch kurz zum Deutschen Theater unterwegs war, wenigstens von außen wollte ich es sehen, kamen mir auf der anderen Straßenseite Ahab und Gaggi entgegen, winkten mich zu sich, erstaunt, mich doch noch an diesem Wochenende in Göttingen zu sehen. Sie hatten mir die falsche Adresse gegeben, Gaggi war zwar in der Klinkerfuesstraße gemeldet, konnte aber gerade jetzt im Winter das Geld für die Münzheizung nicht aufbringen und war vorübergehend in Ahabs WG direkt am Nabel untergekommen.

Da saß ich dann in spartanischer Leere am Küchentisch und langweilte mich den Rest des Wochenendes, nachdem ich das einzige Buch, das in dieser Studentenwohngemeinschaft aufzufinden war, „Der kleine Muck“ von Wilhelm Hauff im billigen Pappeinband, dreimal aufmerksamst durchgelesen hatte.

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Wem gehört der deutsche Wald?

„Wo die Weser einen großen Bogen macht …“

Nachts um halb eins aus sieben Kehlen in einem Zweibettzimmer im Haus Sonnenberg in St. Andreasberg.

„Wo man trinkt die Halben in zwei Zügen aus …“

Der Rotwein kreiste in Flaschen, den hatten wir besorgt, Manni, Moppel, Andreas und ich, dazu gab es Käse, in dicken Stücken vom Laib geschnitten, den hatten die beiden dänischen Lehrer aus Odense mitgebracht: die Cracker waren der Beitrag des lustigen dicken Simultandolmetschers.

„Remmerbier, Remmerbier trink ich gerne,
Remmerbier, Remmerbier hat keine Kerne,
Remmerbier, Remmerbier, das fließt munter
unsre Kehlen rauf und runter …“

Unser Gesang war nicht schön, aber laut, und nebenan gut zu hören. Nebenan, da waren die beiden Lehrer untergebracht, Deutsch, Geschichte, Kunst, die uns auf dieser Studienfahrt begleiteten. Beim Frühstück am nächsten Morgen setzten sie sich an unseren Tisch, musterten erst uns eingehend, wendeten ihre Köpfe dann zueinander, schauten sich wissend an und wunderten sich laut, wie gut die Dänen sich mit dem norddeutschen Liedgut auskannten. Niemand verzog eine Miene.

„Hermann Löns, die Heide brennt …“

Mit dem Pegel stieg die Stimmung und die Lieder kippten vollends ins Heimattümlich-Suffköpfige. Ich erzählte von der antiautoritären Bewegung an der Mittelweser, von den Zusammenkünften der Avantgarde, der Laberkönige vom USSB, im Stockturm, der Dolmetscher nahm einen Schluck aus der Pulle und begann, mich ins Dänische zu übersetzen, seine Lehrerkollegen glucksten erst, prusteten dann los: „So macht er das immer, wenn du sprichst.“ Ich begriff gar nichts und muß auch so ausgesehen haben. „Ich lege dir lustige Sachen in den Mund, Kabarett, das kommt besonders bei den Mädchen gut an.“ So gut Deutsch, ihm auf die Schliche zu kommen, könnten sie alle nicht, und: Warum ich besonders bei Aenne-Mette und Helle einen solchen „Stein im Brett“ habe, solle ich mich fragen.

Ich war erst einmal sauer. Internationale Jugendtagung „Gesellschaft und Demokratie“ vom 12. bis zum 21. Mai 1968, die aufregenden Ereignisse in Paris paßten zum Thema und schwappten immer wieder in die Debatten, Leitung ein Dr. Ray Bomber, der Mann hieß wirklich so, die Referenten ausnahmslos Jungpolitologen unter 30, das war für uns sehr wichtig damals, außer unserer noch die Schulklasse aus Odense und eine aus Bremen, die Hormone wilderten in beiden, jeder meiner Diskussionsbeiträge, und es waren nicht wenige, wurde mit vollem Ernst und feurig überzeugt vorgetragen; und dieser dicke Dolmetscher synchronisierte mich als Schmierenkomödie. Meine Verstimmung hielt aber nur wenige Sekunden an, er schnitt mir ein dickes Stück Käse ab und vom Wein beschwingt vergab ich ihm.

„Was führt ihr denn morgen zum Abschluß auf?“ Aus dem „morgen“ war längst „heute“ geworden und so selbstverständlich, wie wir uns damals solch reaktionärem Brauchtum verweigerten, hatten wir auch nichts vorbereitet.

„Ho, Ho, Ho-Chi-Minh!“

Aber mein Ehrgeiz war geweckt. Nach dem letzten Lied und dem letzten Schluck Rotwein legte ich mich nicht ins Bett, sondern setzte mich hin und schrieb, inspiriert von Handkes „Publikumsbeschimpfung“, die man gerade im Theatersaal an der Buermende gegeben hatte, dem Internationalen Vietnam-Kongreß, den der SDS im Februar in Berlin veranstaltet hatte, und den Demonstrationen des Frühjahrs, ein kleines Stück Sprechtheater, weniger als zehn Minuten, Parolen, wie sie auf den Protestmärschen skandiert wurden, Bruchstücke aus Aufrufen, Pamphleten und anderen Schriften der APO, nachempfunden, denn an die Originale kam ich in dieser Nacht nicht heran, handschriftlich, gleichmäßig verteilt auf fünf Manuskripte für fünf Vorleser.

Kurz vor dem Frühstück war ich fertig und schnappte mir vier Mitstreiter, jeder bekam seinen Text in die Hand gedrückt. Nach dem Frühstück übten wir kurz, eine Reihenfolge hatte ich nicht festgelegt, jeder entschied spontan, wann er an der Reihe war, die Parolen im Chor, dem Vorbeter nach. Die Aufführung unterschied sich dann auch ein wenig von der Probe. Wir standen nicht, sondern hockten im Halbkreis auf dem Boden, vieles kam an anderer Stelle, manches blieb ungesagt, weil es dem Sprecher doch nicht in den Kram paßte, bei den Parolen reckten wir jetzt immer unsere linken Fäuste rhythmisch in die Luft.

Dem Publikum gefiel es, nur unserem Deutsch- und Klassenlehrer Dr. S. nicht, der stand vor diesem Stück ebenso ratlos wie vor Handkes „Publikumsbeschimpfung“ und mochte es nur als Klamauk und Ausdruck ungezügelten Rebellentums, nicht aber als Theater anerkennen. Der stärkste Beifall kam von den dänischen Mädchen und ich fragte mich, welcher Teufel den Dolmetscher wieder bei seiner Simultanübersetzung geritten hatte. Er bat mich um ein Manuskript, ich gab ihm den Loseblatthaufen des einzigen Originals, etwas anderes hatte ich ja nicht, das er später übersetzte und das als Grundlage einer weiteren Aufführung an der Schule in Odense diente.

Moppel hielt weiter brieflichen Kontakt mit den beiden dänischen Lehrern und als Spätfolge des Käse-, Rotwein- und Liederabends bekamen wir eine Einladung nach Odense. Wir fuhren in den letzten beiden Ferienwochen, als in Dänemark die Schule schon wieder begonnen hatte. Das Geld für diese Fahrt verdiente ich mir mit Gartenarbeit für den Fabrikanten Scharmentke und mit Interviews für ein Meinungsforschungsinstitut, sechs Mark fünfzig pro Stück. Die beiden Gauloises rauchenden Soziologiestudenten, die im Bully über die Dörfer fuhren und unsere Truppe einteilten und anwiesen, wurden zu meinen neuen Göttern, ich wechselte von Stuyvesant auf Filterlose, Roth-Händle, der Dritte Weg zwischen den Bauarbeiter-Overstolz meines Vaters und den kurzen Franzosen mit dem Flair von Aufbruch und Welterkenntnis.

„Das ist jetzt Hitlers Autobahn?“
„Nein, das ist die A2.“
„A7, auf dem Schild steht A7.“

Wegen Rolf, sein Vater war ein höherer Offizier bei den Panzergrenadieren in Langendamm, wären wir beinahe nicht losgekommen, seine Eltern beide in Urlaub, er mußte das Haus hüten und wagte nicht, es zu verlassen, bevor er nicht die letzte Franse am riesigen Wohnzimmerteppich sorgfältig gerade gekämmt hatte, wegen Erich, der Kadett gehörte seiner Mutter, wären wir beinahe nicht angekommen, auf der Autobahn, 150 Kilometer von Herrenhausen bis Hamburg, fuhr er Strich 90: „Sprit sparen“, für zwei Minuten kurbelte er vor Walsrode das Schiebedach zurück, wir durften die Hände in den Wind strecken, dann mußte es wieder geschlossen werden: „Luftwiderstand.“ Doch, ich war mit ordentlichen Leuten unterwegs.

Die Nacht bei Moppels Bruder in der Pfeifenraucherwohnung in Altona, frühmorgens dann auf den Fischmarkt, Nachtschwärmer gegen Frühaufsteher, weiter über Kolding, wir winkten heftig in die Richtung, in der wir den Simultandolmetscher vermuteten, und die alte Lillebæltsbroen hinüber nach Fünen. In Odense wohnten wir bei einem der beiden Lehrer, blau gestrichenes Kiefernholz, reichhaltiges Frühstück am großen runden Tisch. Auf dem Stadtrundgang gelang es uns, eine Bildzeitung zu kaufen, unsere Waffe für den übernächsten Tag.

„Wem gehört der deutsche Wald? Den Jägern oder den Liebespaaren?“

Man hatte uns gebeten, eine Deutschstunde zu geben, in der Klasse, die uns und umgekehrt wir sie aus Sankt Andreasberg kannten, mit Helle, einsfünfundsiebzig, dunkelhaarig, und Änne-Mette, einssechzig, blond, und den anderen Objekten unserer Begierde, 45 Minuten, nur von uns frei gestaltet. Die Bildzeitung legten wir hübsch gefaltet in einen Schnellhefter, unsichtbar für die Klasse, vorne drauf ein Schild, in Druckbuchstaben deutlich beschriftet: „Aktuelle Texte zur Interpretation“. Wir lasen den Leitartikel vor: „Wem gehört der deutsche Wald? Den Jägern oder den Liebespaaren?“ – emotions- und fast tonlos, als sei es ein langweiliger Sachtext aus der Gemeinschaftskunde – und wir ließen die Ahnungslosen darüber diskutieren. Die bemühten sich um ernsthafte Argumente, die Jäger gewannen, sich offen auf die Seite der Liebespaare zu stellen war den meisten wohl zu heikel, und für die Liebe seien Betten auch bequemer. Erleichtertes Gelächter, als wir am Ende der Stunde die Bildzeitung aus dem Hefter nahmen, entfalteten und enthüllten, worauf sie hereingefallen waren.

Am Abend gab es dann eine Klassenfete in der Schule, in einem Raum im Keller, Beatmusik und Coca Cola, uns wurde das Vorgriffsrecht auf die Mädchen eingeräumt, wenn wir mit ihnen tanzen wollten, mußten die dänischen Jungs zurückstehen. Fürwahr, nach einer Rotwein- und Käsenacht, einem kleinen Stück Sprechtheater und, ausgerechnet, im schönsten Kontrast dazu, einem Sommerlochartikel aus dem Springerblatt, hatten wir jetzt einen Riesenstein im Brett der, vor allem, Däninnen.

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Zechpreller

Nur zweimal in meinem Leben bin ich die Zeche schuldig geblieben, einmal, wir waren beide kaum sechzehn, als ich mich mit meinem Freund Jürgen, dem Sohn des Sargtischlers, der zwei Jahre zuvor von zu Hause ausreißen wollte, es mit dem Fahrrad immerhin bis Bremen geschafft hatte, aber am mangelnden Butterbrot gescheitert war, an einem Samstagabend in die Safari-Bar in der Leinstraße wagte und dort von einem Zweimeterschrank von farbigem GI bedrängt wurde, der mir den Griff eines Spazierstocks um den Hals legte und mich aufforderte, zu lachen, woraufhin ich mir vor Angst fast in die Hosen machte, mich mit einer Rechtsdrehung aus dem Krummholz schlängelte und im Armin-Hary-Tempo aus dem Lokal rannte, ohne meine Cola zu bezahlen, das zweite Mal, als ich auf einem Altstadtfest in Hannover auf der Terrasse einer Pizzeria an der Leine zwar glücklich bedient wurde, der Kellner aber fünfmal, meinen Wunsch, zu zahlen, mit „prontamente“ beschied, ohne dem nachzukommen, und sich auch auf meinen Zuruf, ich war schon aufgestanden und schob den Stuhl zurück, ich müsse dann eben gehen, ohne zu bezahlen, nicht zu mir bequemte.

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Just Like Scottie Ferguson

Am 21. August 1968, es war ein Mittwoch, zogen wir im Triumph in Jönköping ein. Das Autoradio voll aufgedreht, Ola & The Janglers „Let’s Dance“, ich hatte mich durchs Schiebedach gezwängt, stand mit federnden Knien auf dem Beifahrersitz, reckte die Linke rhythmisch zum Siegeszeichen hoch und warf mit der Rechten staunenden Halbwüchsigen am Straßenrand Gitanes jaunes zu, die ich unbedingt wieder loswerden wollte. Ein Bully mit zwei Bremern auf dem Rückweg vom Nordkap war uns gegen Mittag auf der Landstraße begegnet und der Fahrer hatte mich überredet, meine letzten drei Roth-Händle gegen zwei Schachteln dieses teuflisch starken Krauts einzutauschen.

Wir waren zu fünft und mitsamt Gepäck und Zelten im Kadett unterwegs, der Erichs Mutter gehörte. Jönköping war ursprünglich nicht eingeplant, eigentlich wollten wir nach Kopenhagen, Tivoli und Tom Jones noch ein paar Tage auf Fünen verbringen, Moppel überredete uns zu diesem „kleinen Abstecher“, eine Susanne, deren Herz er erobern oder zurückerobern wollte, ich weiß es nicht mehr so genau, hielte sich dort längere Zeit bei Verwandtschaft auf und wir könnten sie doch an ihrem Geburtstag überraschen. Sie freute sich tatsächlich über unseren Besuch, aber die Nachricht vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, die wir zuerst von ihr erfuhren, drückte unsere Stimmung nicht wenig. Nicht nur unsere Hoffnung auf die Quadratur des Kreises, auf einen „dritten Weg“ war dahin, wir befürchteten ein Eingreifen der NATO und, Erich, Rolf und ich waren schon tauglich gemustert, daß die Bundeswehr ihre Finger nach uns ausstreckte. Von den Reden, die auf der Protestkundgebung am nächsten Abend, gehalten wurden, verstanden wir kein Wort, der Ton war aber so besorgt, daß wir beschlossen, erst einmal im neutralen Schweden zu bleiben, zur Not auch noch über das Ende der Sommerferien in der folgenden Woche hinaus.

Wir schlugen unsere Zelte auf dem Campingplatz direkt am Vättern oberhalb der Steilküste auf. Mich überkam an diesen Tagen, fünf wurden es noch, eine gewisse Langeweile, zog aber brav mit, wenn es hinunter zum See an den Strand ging. Am vorletzten Tag packte mich so etwas wie Abenteuerlust. Als die anderen sich auf den bequemeren, aber weiteren Rückweg machten, ein Mittagessen aus Dosen stand an, spazierte ich den kurzen Weg am schmalen Ufer entlang, fest entschlossen, unter dem Platz den steilen Hang hochzuklettern und vor ihnen anzukommen. Die ersten beiden Drittel bewältigte ich mühelos, doch dann ging es fast senkrecht nach oben, zum Schluß sogar mit ein wenig Überhang.

Hier kam ich plötzlich nicht mehr weiter und hing sozusagen in der Luft. Unter meinen Füßen begann es zu bröckeln, der Hang bestand ja nicht aus Fels, sondern aus mehr oder minder festem Sand, mit einer Hand bekam ich ein Grasbüschel aus der oberen Kante zu fassen, das auch nicht vertrauenswürdig fest im Boden verwurzelt war, mit der anderen krallte ich mich an eine Unebenheit. Ich dachte schon daran, mich fallen zu lassen, allzu hart würde der Aufprall nicht sein, die Höhe, zehn, zwanzig Meter vielleicht. Ich blickte nach unten und erschrak. Es schien mir sehr viel höher und der Boden war bedeckt mit zerbrochenen Glasflaschen und rostigen Konservendosen mit scharfen Kanten, Müll, den die Campinggäste der Einfachheit halber dorthin entsorgt hatten. Als ich dort unten entlang gegangen war, hatte es mich nicht weiter gestört, aber jetzt ergriff mich eine panische Angst, von Glasscherben und rostigem Blech aufgeschlitzt zu werden. Ich rief um Hilfe. Nach einer Ewigkeit, in Wirklichkeit wohl nach weniger als einer halben Minute, erschien Manni über mir, schüttelte grinsend den Kopf und zog mich gemeinsam mit Moppel hoch.

Sie lachten noch bis zum Abend über mich, als wollten sie die Gefahr nicht glauben, in der ich mich befunden hatte. Eine Kriegsgefahr, das war uns dann auch klar, ging von den Ereignissen in der Tschechoslowakei nicht aus, wir packten am Sonntag zusammen, erreichten die Nachtfähre von Göteborg nach Frederikshavn und fuhren in einem Rutsch zurück an die Weser.

13 Jahre später war ich, im Juni und frisch verliebt, mit meiner späteren Frau in Puerto de Soller an der mallorquinischen Nordwestküste  unterwegs zu einer schönen, aber einsamen Badebucht, die man nur vom Wasser oder nach einem längeren Fußweg erreichen konnte. Der breite und bequeme, aber mäandernde Weg durch den Wald war mir zu weit, mich packte wieder die Lust auf Unbekanntes, so gingen wir einen schmalen Pfad an der Steilküste entlang, rechts von uns der Wald, links von uns, anfangs noch in sicherer Entfernung, der Abgrund zum Meer.

Mit der Zeit näherte sich der Weg immer mehr der Felskante, zwei Meter, ein Meter, fünfzig Zentimeter, bis er direkt daran entlang führte, links der Abgrund, rechts Fels, und sich in der letzten Biegung vor dem Ziel für vielleicht achtzig Zentimeter in Nichts auflöste, weggebrochen schon Jahrzehnte zuvor. Mit einem beherzten Sprung hätte man ihn auf der anderen Seite wieder erreichen können, aber anders als am Vättern war es hier viel höher und wir wären bei einem Fehlsprung nicht auf weichem Sand sondern auf hartem Felsen gelandet. Ein Blick nach unten, der Schwindel packte mich bis ins Gemächt und ich mußte mich bemühen, nicht zu taumeln und hinabzustürzen. Karin ging es noch viel schlimmer. Wir tasteten uns Schritt für Schritt zurück, immer bemüht, unseren Blick nur ja nicht nach unten zu richten.

Als wir wieder vierzig Zentimeter zwischen uns und dem Abgrund hatten, drehten wir um, gingen vorwärts weiter, aber nicht in Richtung auf die Bucht, sondern sehr schnell zurück ins Hotel, setzten uns an den Pool und beruhigten uns bei einigen Gin Tonic.

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Quadronal und Bier für 35 Pfennig

„Walther! Rätzke!“ Mit gequält zitternder Stimme scheuchte uns Mucki Dahms vom Käsekästchenspiel hoch: „Ich habe Kopfschmerzen und brauche Quadronal.“ Er hatte immer Kopfschmerzen und brauchte immer Quadronal, wir waren beide in der neunten Klasse sitzengeblieben, aber Mathematik war nicht unser Problem, eher im Gegenteil. Quadratische Gleichungen, Graphen, Winkelfunktionen, wir wußten schon, worauf seine Bemühungen hinausliefen, und zerdepperten sie oft genug mit unseren vorschnellen Antworten, was seine Kopfschmerzen noch zu verschlimmern schien. Dann ließ er sich ein Glas Wasser holen, nahm eine Tablette und überbrückte die Zeit, bis sie wirkte, mit Ausführungen über sein Hobby, das Segelfliegen, oft mit Tafelskizzen über Auf-, Ab- und sonstige Winde, oder über das, was uns später an der Universität erwartete: Füchse, Burschen, Alte Herren, Mensuren, Trinkgelage. Ging sein Tablettenvorrat zur Neige, rief Mucki Dahms die Alarmstufe Rot aus und schickte vertrauenswürdige Schüler in die Apotheke, am Donnerstag in der dritten Stunde immer Paul und mich.

„Für Herrn Studienrat Dahms, nicht wahr?“ Der Apotheker kannte uns schon und wußte, für wen wir das Quadronal holten. Das Wechselgeld durften wir behalten, das wußte er nicht, und auch nicht, warum wir es ausschließlich in Groschen ausgezahlt haben wollten. Wir gingen nämlich nicht sofort in die Schule zurück, sondern kehrten erst einmal bei Tante Mariechen ein, der Wirtin des Gasthauses Kindermann, Lange Straße 93 neben der Markthalle. Dort kostete das kleine Bier, null Komma zwei, nur 35 Pfennig, ein auch vor fünf Jahrzehnten äußerst günstiger Preis, zugeschnitten auf den Geldbeutel der Baustudenten vom Corps Hannoverania, die dort ihre Kommersabende veranstalteten und einen kleinen Schießstand hinter dem Haus hatten.

Für das Bier rührten wir das Wechselgeld aus der Apotheke nicht an, die Groschen waren unser Einsatz, Risikokapital, für unsere Raubzüge am Geldspielautomaten, der zu unserem Glück von der Theke aus nicht einsehbar war. Wir hatten herausgefunden, wie man dieses Modell überlisten und bis auf den letzten Groschen plündern konnte. Man mußte nur Groschen für Groschen hineinstecken, warten, bis einmal der Höchstgewinn kam, eine Mark damals, dann den Stecker aus der Steckdose ziehen, ein weiteres Zehnpfennigstück in den Geldeinwurfschlitz werfen, den Stecker wieder hinein in die Steckdose stecken: das Gerät lief wieder, aber ohne daß sich die Scheiben drehten, und spuckte erneut den Höchstgewinn aus. Das konnte man wiederholen, bis der Automat leer war. Wir mußten nur genügend Groschen für die Anschubfinanzierung dabei haben und darauf achten, die Scheiben vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Erstens rotierten sie ja wegen unserer kleinen Manipulation nicht und zweitens flackerten sie in einem nervenden Alarmblau, um den Fehler anzuzeigen.

Erwischt hat man uns nie, aber eines Tages fanden wir den Stecker mit mehreren überkreuz angebrachten Schichten Leukoplast an der Steckdose befestigt und wir wollten das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Den Rest unserer Quadronal-Freistunden verbrachten wir von da an am Flipper im Hinterzimmer einer kleinen Kneipe in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße nur wenige Schritte vom Buchhändler Ulrich entfernt.

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Tarnanzug

Einmal war ich sogar im Fernseh‘, 1977 muß das gewesen sein, als Störer in einem 90-Sekunden-Filmbericht über eine Biedenkopf-Veranstaltung im größten Hörsaal des ZHG. Ich war aber nicht als solcher zu erkennen, denn ich sollte dem Genossen Gerold helfen, ein Megaphon in den Saal zu schmuggeln, und hatte zu diesem Zweck meine übliche Parka gegen das seriösere lindgrüne Feincordjackett eingetauscht. Die Tarnung gelang anfangs und flog auch nur auf, weil sie so gut war, daß der Genosse Falko, ein bulliger Typ aus der WG ein Stockwerk über unserer, mich nicht mehr erkannte und für einen RCDSler hielt, der das Megaphon entwenden wollte, mich mit einer krachenden Rechten gegen die Schläfe begrüßte, die mich taumeln ließ, und von den Genossen um ihn herum mühsam zurückgehalten werden mußte, mich vollends zusammenzuschlagen.

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Ertappt

„Was machen die Menschen in der Kirche?“, fragte uns Pastor Günther vor fünf Jahrzehnten in der Konfirmandenprüfung. „Sie schlafen“, vorwitzelte es postwendend aus mir heraus, wie üblich, ohne mich vorher gemeldet zu haben. Der Pastor sah mich strafend an, die Gemeinde aber dankte mir mit Heiterkeit, was wiederum den Kirchenvorstand Kray weckte, der in der dritten Reihe eingenickt war, nun verstört und Begreifen heischend um sich blickte und damit eine zweite mit Glucksern und Prustern durchsetzte Lachwelle auslöste.

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Lichte Momente 4: Brainticket

„Diese Reise werdet ihr niemals vergessen. Das verspreche ich euch.“

Meyer saß an dem Tisch in der Mitte und faßte die Langspielplatte, Brainticket, die er gerade auf das Koffergerät auflegte, vorsichtig mit den Fingerkuppen beider Hände am Rand, als sei sie ein Heiligtum. Wir, Ruppert, Gerd C. und ich lagen auf fremden Betten in Meyers Stube, nicht in der Jägerkaserne, sondern auf dem Flugplatz, man hielt uns für betrunken – ich mußte mir in die Fingerknöchel beißen, um nicht mit der wahren Natur unseres Rausches herauszuplatzen – und hatte uns erlaubt, dort „weiterzufeiern“.

Die Nadel setzte kaum hörbar in die Rille und Meyer löschte das Licht.

Brainticket und Meyers Worte führten uns erst ins Weltall, höher und höher, die Unendlichkeit war zum Greifen nah. Meyer schlug mit einem Schlüssel gegen einen Bettpfosten, die Sterne verwandelten sich in hell klingende Töne und das Universum wurde von einem Totenschädel aus Silberblech umhüllt, es sei unser eigener, ließ er uns wissen. Nun setzte er einen Bohrer an, der Löcher in unsere Schädeldecke fraß, durch die unser Hirn nach außen gezogen werden sollte.

„Aufhören! Du hattest uns eine schöne Reise versprochen.“
„Die sollt ihr haben.“

Meyer führte uns in eine riesige unterirdische Höhle mit leuchtenden Wänden und angefüllt mit den Klängen von Brainticket. Es ging tiefer hinein in die Höhle, die Wände verengten sich langsam, die Decke senkte sich allmählich, das Leuchten wandelte sich in ein feuchtes Grau, der Boden verlor an Festigkeit, lehmig zuerst, dann schlammig, mit jedem Schritt gerieten wir tiefer hinein, zum Schluß hatte er sich in eine übel stinkende Jauche verwandelt, in der Exkremente herumschwammen. Als mir die bis zum Hals stand und das erste Stück Scheiße in den Mund zu schwimmen drohte, stieg ich aus, still, ohne Protest einzulegen wie Ruppert beim Ansetzen des Bohrers, blendete die Stimme Meyers einfach aus und spielte meinen eigenen Film ab.

Ich weiß nicht, wie oft Meyer die Platte noch umgedreht hatte, ich weiß nicht, wie lange die beiden anderen noch in seiner Hand waren, jedenfalls begann es irgendwann zu dämmern, eine bleierne Stille lag über dem Raum und Meyer schlug vor, es war eher ein Befehl, nach draußen zu gehen und den neuen Tag zu begrüßen. Wir stiegen in seinen Kadett, nahmen den kurzen Weg über das Nordtor, bei Scheie hielt Meyer an, müde, leer und fröstelnd fanden wir uns am Rande eines Ackers wieder, alle, bis auf Gerd.

Der war immer noch abwesend, stand verloren da in seinen Gummistiefeln, keine Designermodelle, die gab es 1971 noch nicht, richtige schwarze Bauerngummistiefel, die er immer trug, wenn er nicht im Dienst war, selbst das Kanbach kannte ihn nicht ohne. Meyer holte ein Wurstbrot aus seiner Jackentasche, das er sich vom Abendbrot aufgehoben hatte, wickelte es aus und hielt es Gerd vor die Nase. Der wollte zugreifen, aber Meyer lachte nur und zog es wieder zurück. Gerd machte einen Schritt auf ihn zu. Meyer hielt das Wurstbrot nach links, Gerd bewegte sich nach links, nach rechts, Gerd wechselte die Richtung, Meyer ging zwei Schritte zurück, Gerd folgte, ein Schritt vorwärts, Gerd wich zurück, so ging es fast eine Viertelstunde, nach links, nach rechts, vorwärts, rückwärts, Gerd allen Bewegungen mit einen halben Meter Abstand zum Wurstbrot hinterher wie ein gehorsames Hündchen, bis Meyer die Stulle vor seinen Augen langsam und mit sichtbarem Behagen aufaß, ohne ihm einen einzigen Bissen davon abzugeben.

Am Abend hielten wir Rat. Wir beschlossen erstens, daß Meyer ein Schwein war – wie sich herausstellte, hatte er selbst keinen Trip eingeworfen und gar keine Entschuldigung mehr für sein Verhalten – und zweitens, daß Gerd zu schwach war, weiter irgendwelches Zeug zu sich zu nehmen, Cannabis, LSD, Kokain, härteres, gleichgültig, was, und wir ihn auf der Stelle erschössen, sollte er in Zukunft auch nur ein einziges Mal gegen unser Verbot verstoßen. Wir meinten es ernst. Das wußte er auch und hielt sich daran, zumindest, solange wir beim Bund waren.

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Lichte Momente 3: Engel und Vampire

Gemeinsam gingen wir meist nur montags bis donnerstags auf die Reise, am Wochenende fuhren fast alle nach Hause, nach Unna, Bochum oder Gelsenkirchen, nur Gerd C. blieb oft in der Kaserne, seine Eltern waren geschieden, Geschwister hatte er nicht, seine halb-verrückte Mutter drehe zu oft durch, behauptete er, und er brauche vor allem seine Ruhe. Für mich war es unerheblich, ob ich am Mittwoch, am Freitag, am Sonnabend und am Sonntag den Weg nach Münchehagen ins Kanbach, meine zweite Heimat damals, von der Jägerkaserne (28 Kilometer) oder von Estorf (20 Kilometer) aus antrat. Deshalb verabredete ich oft mit Gerd eine bestimmte Uhrzeit, zu der wir räumlich getrennt, aber gleichzeitig einen Trip einwarfen.

Am letzten Oktoberwochenende, es müssen gerade Herbstferien gewesen sein, war es ausnahmsweise der Sonntag, weil Gerd seine Mutter besuchen und bis zum späten Nachmittag bleiben wollte. Beim Abendessen warf ich die Pille in einem unbeobachteten Augenblick ein und fuhr um acht Uhr los. Im Kanbach war es ziemlich leer, von Gerd war noch nichts zu sehen. Ich setzte mich zu den beiden Schwestern aus Brüninghorstedt und unterhielt mich eine Stunde oberflächlich mit ihnen, soweit es die Musik zuließ. Dann mußte es aus mir heraus. Ich brach den angefangenen Satz in der Mitte ab und grinste sie unvermittelt an: „Übrigens, ich bin voll drauf“, stand auf, stürmte die Tanzfläche, bewegte mich wild, schnell, heftig, ausdrucksstark, so kam es mir jedenfalls vor, ununterbrochen, bis ich kurz vor Mitternacht an mir herunter sah und zu meinem Erstaunen feststellen mußte, daß ich mich nur noch in extremer Zeitlupe bewegte. Gerd war immer noch nicht aufgetaucht. Zeit zu gehen.

Vor dem Eingang stand Lothar H., er könne nur „lieben und sonst gar nichts“, behauptete er von sich, das stimmte nicht ganz, Schlagzeug konnte er auch noch ganz ordentlich. „Nimmst du mich bis Leese mit, Zapp?“ Obwohl ich nicht nach Hause wollte, sondern in die andere Richtung nach Bückeburg mußte, tat ich ihm den Gefallen. Hinter der Kirche standen zwei sehr junge Mädchen und trampten uns an. „Aber nur bis Leese.“ Sie nickten freudig.

Als Lothar ausstieg, blieben sie sitzen. „Es geht nicht weiter. Ich fahre wieder zurück.“ Das war ihnen auch recht. Sie wollten noch etwas erleben in dieser Nacht. Aber was sollte ich mit ihnen anfangen? Sie waren entschieden zu jung, siebzehn und vierzehn, Cousinen, die jüngere bei der älteren in Münchehagen zu Besuch. Ich griff zu meinem goldenen Pillendöschen, das ich immer mit mir führte, seit wir im Spätsommer zusammengelegt und von den Chemieschülerinnen hundert Trips gekauft hatten, eine Mark das Stück, Straßenverkaufswert das Zehnfache. Die Ältere lehnte ab, wollte wohl die Kontrolle behalten, die 14-jährige griff dankbar zu, ich warf noch einen Trip nach. Wohin nun? Das Kanbach hatte schon zu, sie schlugen den Steinbruch vor, links ab auf dem Weg nach Bad Rehburg, dort, wo heute der Dinosaurierpark ist.

Der Himmel war klar, der fast volle Mond tauchte das Gestein in ein magisches Licht, in dem wir badeten, als wir den Rundweg entlang schritten. Ich fühlte mich wie ein Rockstar mit einem Gefolge aus blutjungen Groupies, die ältere, größere Cousine dunkelhaarig und dunkel gekleidet rechts neben mir, die zierliche blonde jüngere in einer hellen Jacke links einen halben Schritt zurück. Welch eine großartige Nacht, welch ein großartiger Ort für ein solches Unternehmen, versicherten wir uns gegenseitig, immer wieder lachend und laut juchzend.

Die Siebzehnjährige breitete die Arme aus und flog lachend auf mich zu, ihre Lippen wurden dunkler, fast schwarz, ihre spitzen Eckzähne blitzten im Mondlicht auf, ihr Lachen verzerrte sich zu einem häßlichen Krächzen: ein Vampir! Erschrocken taumelte ich zurück, wäre fast gestürzt. Die blonde Cousine betrachtete die Szene mit einem holdseligen Lächeln, verwandelte sich augenblicklich in einen Engel, in den ich mich auf der Stelle verliebte. Den Rest des Weges ging nicht mehr sie neben mir, sondern ich neben ihr, und ich achtete ängstlich darauf, daß ihre vampirische Verwandte meinen inneren Kreis nicht mehr berührte.

„Schade, daß wir dich nicht mit reinnehmen können, aber meine Mutter würde ausflippen“, bedauerte die Vampirin, als ich sie vor einem Einfamilienhaus aus dem Wagen ließ. Ich war einerseits froh, daß ich ihre Zähne nicht mehr länger zu fürchten hatte, andererseits schaute ich dem blonden Engel wehmütig hinterher.

Der Montagvormittag war grausam. Ich war hundemüde, kam nur schwer von diesem doppelten Trip wieder runter und wurde auch noch zu mehreren Fahrten mit dem Krankenwagen verdonnert. Gerd ging es noch schlechter. Er hatte erfahren, daß die Kopfschmerzen und Verrücktheiten seiner Mutter von einem Hirntumor rührten und sie nur noch wenige Monate zu leben hatte.

Am Dienstag war die Müdigkeit besiegt, stattdessen ging mir den ganzen Tag der liebreizende Engel nicht aus Kopf. Sofort nach Feierabend fuhr ich nach Münchehagen und zweimal an dem Haus vorbei, an dem ich die beiden abgesetzt hatte, traute mich aber nicht zu klingeln. Am Mittwoch war der erste Schultag nach den Herbstferien, da mußte sie wieder zu Hause in Sachsenhagen sein. Ich fuhr einige Straßen langsam auf und ab, erregte aber nur das Mißtrauen eines treckerfahrenden Bauern, weil ich ihn nicht überholen wollte. Am Donnerstag sah ich die Hoffnungslosigkeit und Idiotie meiner Suche schon vor der Abfahrt ein, bettelte stattdessen bei Schaub, unserem Pseudo-Intellektuellen mit der Brille aus Fensterglas, um seinen Kassettenrekorder, warf mich aufs Bett und hörte den ganzen Abend Gary Puckett in Endlosschleife.

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