Weltzentrum des Geizes

Wieder einmal nahm ich den Schleichpfad der Erinnerungen über Schessinghausen und den Nienburger Bruch. Dieses Mal bog ich aber an meinem Geburtshaus links ab.

Rechts der Friedhof, auf dem einst meine Großeltern lagen, die aber längst auf den großen Komposthaufen dort hinter der Familiengrabstätte der Gutsbesitzer entsorgt wurden. Links der Osterberg mit der Todesbahn, die der Maurer und Hausschlachter H. im Winter mit Wasser aus Zehnlitereimern für uns vereiste. Wenn man schnell und mutig genug war, schaffte man es bis zur Friedhofspforte, war man zu kühn, knallte man gegen einen Baum und wachte im Krankenhaus wieder auf wie Heiner B.

Am Ende eine scharfe Rechtskurve vorbei an Onkel Gerd, dem Briefträger mit der verkrüppelten Hand, der vor dem Krieg wohl Friseur war und uns Kindern immer noch die Haare schnitt, der Pißpottschnitt für eine Mark. Als Gleisbauarbeiter sich an der nahen Bahn auf einem Abstellgleis einen Waggon als Kantine mit Fernseh‘ eingerichtet hatten, verzichtete ich kurzentschlossen auf den Haarschnitt und gab das Geld für zwei Cola aus. Leider wollten mir meine Eltern das Märchen vom bösen Mann, der mir die Mark mit Gewalt abgeknöpft habe, partout nicht abnehmen.

Nach wenigen Metern hieß es links abbiegen. Linkerhand ein Häuschen mit Glasbausteinen statt Fenstern und einer Betonplatte als Vorgarten. Hier wohnte ein Mann von kurzer, kräftiger Statur mit Oberarmen wie Gerd Müllers Oberschenkel und militärischen Kurzhaarschnitt, der vor allem dadurch auffiel, daß er tagaus tagein einmal zum Bahnhof in die Kreisstadt radelte, immer in einem gelben Ostfriesennerz, nur eine Hand am Lenker, am ausgestreckten Arm einen Koffer, auf dem Hinweg links, auf dem Rückweg rechts. In einen Zug hat ihn nie jemand steigen sehen.

Als sich die Nachbarn beschwerten, „der ist bekloppt, der hat keine Gardinen und putzt seine Fenster nie“, hat er kurzerhand die Fenster herausgerissen und die Öffnungen mit Glasbausteinen zugemauert. Als die Nachbarn sich beschwerten, weil sich in seinem Garten der Müll türmte, schaufelte er eine ein Meter zwanzig tiefe Grube, warf alles hinein, schüttete Erdreich und Kies darauf, verdichtete die Füllung mit einem Handrüttler und versiegelte die Oberfläche mit einem zugegebenermaßen etwas unebenen Estrich.

Gebaut hatte sich das Häuschen die Familie Q. Der alte Q. war ein sparsamer Mann und ein wahrer Despot. In den Nachkriegsjahren durfte seine Frau keine neue Bekleidung für sich, die Tochter oder den Enkel kaufen, alles sollte sie aus Lumpen nähen. Für sich selbst machte der alte Q. aber eine Ausnahme. Ebenso bei der Butter, die für ihn reserviert war, während die Familie sich Margarine aufs Brot schmieren durfte.

Das ist meine Butter von meinem Geld, verdient euch selbst was, dann könnt ihr eure eigene Butter dafür kaufen.

Am knausrigsten war er beim Heizungsmaterial. Er kümmerte sich selbst um den Ofen und wenn er wochentags auf Arbeit war, durfte seine Frau genau ein Brikett verfeuern. Damit sie ihn nichtn dabei betrog, nummerierte er die einzelnen Stücke im Keller mit Kreide durch und gab morgens Anweisung, welche Nummer an diesem Tag an der Reihe war. Sie führte ihn trotzdem hinters Licht, verfeuerte nach der Nummer 35 noch die Nummer 36, griff nach hinten in den Stapel, wischte die 112 weg und schrieb die 36 darauf.

Kaum bekommt die Alte eine schöne Rente, da stirbt mir das Biest weg.

Frau Q. durfte ihre Rente wirklich nur ein paar Monate, aber der alte Q. konnte sich mit ihrem Tod nicht abfinden, am wenigsten mit dem Verlust der paar Mark Rente, deshalb griff er sich eines Nachts eine Schaufel, schlurfte die 150 Meter zum Friedhof und begann bei Mondschein, seine Frau wieder auszubuddeln. Zu seinem Glück blieb das nicht unbeobachtet, er wurde mit sanfter Gewalt gehindert, weiterzugraben, abgeholt, gründlich untersucht, unter Betreuung gestellt und in ein Heim eingewiesen. Das Häuschen kaufte sich dann der Herkules im Ostfriesennerz.

Familie K. gegenüber übertraf den alten Q. sogar noch im Geiz, bewohnte im Haus praktisch nur das Schlafzimmer und hielt sich ansonsten in einer Art Futterküche im Stallgebäude auf. Er arbeitete drei Schichten in der Glasfabrik, dazu die kleine Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Schweine, Hühner, Gänse und Kaninchen, aber nicht für den Eigenbedarf, nein, alles wurde verkauft, für sich selbst behielten die beiden nur die Abfälle, bereiten zum Beispiel aus den abgeschnittenen Gänsefüßen „Wickelpoten“. Daneben wurde von beiden abwechselnd die Zeitung ausgetragen und die Beiträge für Volksfürsorge, Gewerkschaft und SPD kassiert. Trotzdem schimpfte Frau K. ihren Mann einen Faulpelz, weil er sich für die fünf schichtfreien Tage keine zusätzliche bezahlte Arbeit suchte.

Kinder hatten sie keine. Wie auch, wenn sie Tag und Nacht nur schufteten. Geld brauchten sie auch fast keines, alles legten sie auf die hohe Kante, für später, wenn sie einmal alt seien, sagten sie, damit sie dann nicht darben müßten. Aber wie es so kommt, als sie in Rente gingen, knauserten sie weiter, legten jetzt die Rente auf die hohe Kante … und das Sparbuch wuchs und wuchs. Sie konnten nicht aufhören mit dieser Lebensweise, wohl getrieben von traumatischen Hungererfahrungen aus der Kriegszeit sparten sie weiter bis zum letzten Atemzug.

Das Vermögen teilte eine Erbengemeinschaft aus entfernten Verwandten unter sich auf, über das Haus konnte man sich nicht einig werden, so zerfiel es, obwohl bis auf das Schlafzimmer unbewohnt, zu einem Denkmal übertriebenen Fleißes und übertriebener Sparsamkeit.

Weltzentrum des Geizes
Und immer, wenn ich auf dem Weg zu meinen Eltern über den holprigen Weg zwischen den beiden Häusern entlang fuhr, ergriffen mich die seltsamen Vibrationen dieses Weltzentrum des Geizes.

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2 Antworten zu Weltzentrum des Geizes

  1. Eine seltsam berührende Geschichte und eine widerliche Eigenschaft dieser Geiz.
    Geiz klebt, man wird ihn nicht los.
    Geiz wird in alle Richtungen ausgeübt, sowohl materiell als auch emotional.
    Geiz ist totale Kontrolle.

    Ich habe nun große Lust mir Molières Geizigen anzusehen und verchwenderisch zu sein. Füttern der Enten mit Sahnekuchen und Helium in Autoreifen zu füllen. Ich vergnüge mich, muss nun raus in den Tag.

    Das einzige Vergnügen des Geizigen ist es sich Vergnügen zu untersagen.

    Herzlich:
    Silvia

  2. Herbst 2013 in Czernowitz. Folgte einer Gasse und stand in einem Hinterhof. Schauend. Eine Frau kam auf mich zu, fragend, ob ich etwas suchen würde. Nein, ich wolle mir nur ein Bild vom Augenblick machen. Darauf hin lud sie mich ein, in ihre im Dachgeschoss liegende Wohnung zu kommen. Sie kochte Kaffee auf, ihr Enkel setzte sich zu uns. Die Begriffe „arm“ – „reich“ lösten sich auf. Teilen überwindet – nicht nur Sprachgrenzen.

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