An einem schönen Spätnachmittag im Mai saß sie drei Tische von uns entfernt im Café Güse am Aegi. Dunkelhaarig, schlank, von einem Schleier lächelnder Zurückhaltung umgeben, sehr aufrecht und sehr allein, wie es schien.
Wir arbeiteten beziehungsweise faulenzten alle bei Telefunken im Lager in der Halle 52 in Empelde und gingen nicht auseinander, wenn wir nach Feierabend vor dem Kubus aus dem Bus stiegen. Meist trieb es uns noch in die Markthalle, wir setzten uns vor die Bar auf der Empore und belästigten die Leute, die unter uns zwischen den Ständen herumwieselten, mit unangemessenen Zurufen. Manchmal mochten wir es auch etwas gediegener und wir setzten uns nach oben in die Güse.
An diesem Tag damals im Mai waren wir zu viert. Der kleine Mano, Spanier, als einziger verheiratet, Prediger mediterraner Eßkultur, bemerkte sie als Erster: „So schön und so allein, die braucht jemanden.“ Wir schauten alle hin und stimmten im Chor zu. Der schwule Scirocco=Liebhaber ohne Fahrzeug am Nebentisch schaute von seinem Autoprospekt auf und mischte sich ein: „Im Vertrauen: ich kenne die, bei der hat niemand eine Chance; da beißen Sie sich die Zähne aus.“
Das stachelte uns erst recht an. Wir legten jeder einen Zehnmarkschein auf den Tisch. Wer sich traute und keine Abfuhr bekam, sollte alles behalten. Alle hielten sich vornehm zurück. Ich gab mir einen Ruck und rief den Kellner: „Was hatte die Schöne gerade?“ „Zitronenmilch.“
„Dann bringen Sie ihr noch eine auf meine Rechnung.“
„Zwecklos“, wandte er ein, „aber wenn Sie darauf bestehen.“
Die Kollegen feixten. Er brachte ihr die Zitronenmilch. Sie nahm an und ließ mich an ihren Tisch bitten. Die Kollegen feixten noch ärger. Ich setzte mich zu ihr. Je länger ich dort saß, desto stiller wurden die Kollegen, bis sie nur noch ungläubig schauten und schließlich aufbrachen, ohne den Wetteinsatz auszuzahlen. Aber das Geld war mir inzwischen gleichgültig.
Wir redeten über eine Stunde. Heike. Sie wohnte bei ihrer Oma. Viel mehr erfuhr ich über sie auch später nicht. Wir wollten uns wieder treffen und ich mußte ihr die Telefonnummer der Halle 52 geben.
Eine Woche später rief sie tatsächlich an. „Zapp, beeil dich! Die Zitronenmilch ist am Apparat“, dröhnte der Vorarbeiter durch die Halle. Wir trafen uns dann zu einem Nachmittagsspaziergang um den Maschsee, dem weitere folgten, Herrenhäuser Gärten, ziellose Bummel durch die Innenstadt, Sprengel-Museum, auch ins Kino („Herzflimmern“ im Anzeiger-Hochhaus, Peter von Oertzen und Frau saßen direkt hinter uns) oder ins Theater am Aegi zu Marty Feldman, der die Zutatenliste auf einer Ketchupflasche wunderbar als Chanson sang und in der Pause im Foyer freundlich mit uns und anderen plauderte.
Ich hatte in meinem Kellerzimmer draußen in Schulenburg kein Telefon, bei ihrer Oma durfte ich sie nicht anrufen und bekam deshalb die Nummer auch nicht, ebensowenig durfte ich ihre Adresse erfahren oder wissen, wo sie arbeitet. Manchmal durfte ich sie bis nach Herrenhausen begleiten, wir verabschiedeten uns dann in sicherer Entfernung von ihrem Zuhause und sie achtete darauf, daß ich ihr nicht folgte. Unsere einzige Verbindung außerhalb unserer Treffen blieb das Telefon in der Halle 52.
Einmal ließ sie sich von mir zu einer abenteuerlichen Fahrt (mit dem Zug bis Wunstorf, von dort mit dem Bus nach Münchehagen, zurück mit Rüdiger bis Neustadt, weiter mit der Bahn) in meine Welt ins Kanbach überreden. Sie hatte sich mit einem Kleid extra fein gemacht und fühlte sich fremd und unwohl unter all den hippiesken Gestalten, obwohl sie von denen freundlich aufgenommen wurde.
Wenig später folgte der Gegenbesuch. Wir trafen uns (wieder nach einer Zugfahrt) mit zwei Pärchen aus ihrem Bekanntenkreis, denen ich als ihr Freund, ja, fast Zukünftiger vorgestellt wurde, in einer Diskothek in Burgdorf. In dieser Umgebung und bei dieser Musik wiederum fühlte ich mich nicht wirklich wohl. Und in einigen Momenten an diesem Abend beschlich mich das Gefühl, daß ich den Vieren gegenüber als lebender Beweis für ein ausgefülltes Beziehungs- und Geschlechtsleben Heikes herhalten sollte. Dabei hatten wir zwar viel gemeinsam unternommen, waren aber über harmlose Küsse nicht hinausgekommen, und dabei sollte es auch bleiben.
Oh yeah
Step by step
I’ve got to get close to you
Step by step
I’ve got to get to know you – oh yeah
You came into my life, my gods have the rain falling from above
And I knew when I first saw you
You were the one for me to love
Eines Tages, als wir wieder durch die Innenstadt bummelten, Arm in Arm, das schon, blieb sie vor einem Schallplattengeschäft stehen und zeigte auf diese Single von Joe Simon: Das sei ihr Lieblingslied. Ich konnte mit dieser Musik damals nichts anfangen und deshalb rauschte die Botschaft, die sie mir damit vermitteln wollte, komplett an mir vorbei und ist mir erst viel später aufgegangen.
Im Herbst kam dann das überraschende Ende. Wir hatten uns für einen Freitagabend verabredet und ich wartete über eine Stunde am Aegi vergeblich auf sie. Am Dienstag rief sie dann aufgebracht in der Halle 52 an. Ich habe sie am Freitag am Anzeiger-Hochhaus „dumm in der Gegend herumstehen“ lassen, das ließe sie sich nicht bieten, legte mitten in meinem Erklärungsversuch auf und ließ nie wieder von sich hören.
Hallo,
was für eine herrliche Geschichte: Erinnert mich an eine Jugendliebe. Ich wohnte damals (nicht weit von Hannover entfernt) in Hameln. Auch damals lief alles so
naiv und leicht verklemmt ab. Aber das war damals so , voller unterdrückter Gefühle und Leidenschaften. Trotzdem schön. Wunderbare Erinnerungen ! Danke!