Theo

„Weg mit der ZP Alte Geschichte“, „Boykott“, „Nieder mit der bürgerlichen Wissenschaft“ war auf den Spruchbändern zu lesen, die den Flur im dritten Stock des Blauen Turms schmückten. Die Studentenmassen, die sich dort drängelten, Fachschaftsräte, Spontis, Genossinnen, Genossen, Sympathisanten und sogar Jusos, 26 von ihnen wurden hinterher vor Gericht gestellt, bildeten einen undurchdringlichen Wall vor dem Prüfungszimmer. Die Prüfungswilligen, eine Handvoll nur, die in einer Ecke eingeschüchtert beratschlagten, kamen nicht hinein, die Fachschaftsvollversammlung hatte es schließlich so beschlossen, Heuß, Botermann, Quaß, Gehrke, die Prüfer hinter der Tür wurden nicht herausgelassen.

Begonnen hatte es in einer dieser nächtlichen Sitzungen, die sich hinzogen wie Kaugummi, überquellende Aschenbecher, müde Gesichter, ellenlange folgenlose Herumkrittelei an den Zuständen im Fachbereich, ich hatte plötzlich die Idee: „Wir rufen den Streik am Historischen Seminar aus!“ Alle waren zu schwach, zu widersprechen, wir legten sofort los, das Rotationspapier wurde auf dem Tisch ausgerollt, „Es reicht! Streik am Historischen Seminar! Sofort!“, in Rot mit dem dicksten Filzstift aufgemalt und im Erdgeschoß zwischen den Fahrstühlen aufgehängt. Wer am nächsten Morgen irgendetwas am Seminar zu erledigen hatte, mußte daran vorbei.

„So geht das nicht. In der Mittleren und Neueren Geschichte schon gar nicht!“ Die Sponti-Fraktion des Fachschaftsrates, die bei dieser Nachtsitzung nicht dabei war, verlangte eine Vollversammlung. Auf der ließen wir uns herunterhandeln, auf ausschließlich die Alte Geschichte und auf eine einzige Aktion, den Boykott der Zwischenprüfung dort.

Flugblätter, ein Extrablatt der Fachschaftszeitung, Wandzeitungen, auf denen die Alte Geschichte als reaktionäre Wissenschaft angeprangert wurde, die Vorbereitungen liefen, plötzlich wurde ich zu einer Wehrübung einberufen, genau in der Woche, in der auch Prüfung und Boykott stattfinden sollten. Ich witterte schon eine Verschwörung, lief dann aber zu einem der Assistenten, Gehrke, der so sportlich war, mir eine Bescheinigung auszustellen, nach der ich in der Zeit der Wehrübung am Fachbereich „unabkömmlich“ sei. Nun saß eben dieser Gehrke auch mit den anderen, mit Professor Heuß, Glowka-Botermann und Quaß hinter der Tür und ich gehörte zu denen, die ihn nicht hinausließen, Freiheitsberaubung, Nötigung hieß es später in der Anklageschrift.

Das Häuflein Prüfungswilliger hatte sich schon resigniert verzogen, jetzt drängte sich vom Fahrstuhl her Theo, zwölftes Semester, Bart, Brille, Anzug, durch das Gewoge und hatte die Hand schon an der Klinke, als ihm Clemens den Weg versperrte: „Boykott“, er deutete auf eine der Wandzeitungen, „das gilt auch für dich.“ Theo verlegte sich aufs Betteln. Er sei darauf angewiesen, die Prüfung jetzt zu schaffen, er habe sogar schon zwei Hauptseminare besucht, beide erfolgreich, könne aber die Scheine dafür nicht bekommen und sich fürs Examen anmelden, wenn er nicht endlich diese Zwischenprüfung bestehe.

Die Botermann, „diese Ziege“, müsse man „einmal richtig durchziehen“, war er einmal zu Anfang des vierten Semesters über sie hergezogen, als man im Proseminar auf sie wartete, da stand sie aber schon direkt hinter ihm und niemand hatte ihn gewarnt oder ihm Einhalt geboten. Danach hatte sie dafür gesorgt, daß er elfmal durch die Zwischenprüfung fiel, eine mündliche Prüfung über das gesamte Gebiet der Alten Geschichte, keine Absprachen, keine Wahl oder Zuteilung eines Themas, keine Eingrenzung auf ein Teilgebiet, die Prüflinge sahen sich in einem Stuhlkreis vier Prüfern ausgeliefert und konnten nur hoffen, daß die nicht zu beharrlich in den Lücken herumstocherten. Eine Prüfungsordnung gab es auch nicht, nach der etwa die Zahl der möglichen Wiederholungen festgelegt gewesen wäre.

Wir beschlossen, Mitleid mit Theo zu haben und ihn als Opfer der Zwischenprüfung Alte Geschichte und lebenden Beweis ihres vollkommenen Willkürcharakters durchzulassen. Die Prüfer hatten auch Mitleid mit ihm und ließen ihn in seinem zwölften Versuch endlich bestehen.

Der auf mehrere Tage angesetzte Prozeß platzte, bevor die Anklageschrift verlesen werden konnte, weil der Staatsanwalt übersehen hatte, daß eine der Angeklagten, meine Freundin, noch unter das Jugendstrafrecht fiel. Man einigte sich blitzschnell auf eine Einstellung gegen Zahlung von 300 Mark, immerhin das BAföG für einen halben Monat. So kamen wir ohne Vorstrafe und Schaden für die Zukunft davon, die Althistoriker retteten ihre Prüfung für ein paar Semester und Theo konnte endlich sein Examen ablegen. Danach verschlug es ihn in meine Heimat an der Mittelweser, wo sich unsere Wege noch mehrmals, nein, nicht kreuzen, nur fast berühren sollten.

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Geburtstagsfeier in diesem schmalen überaus renovierungsbedürftigen Fachwerkbau gegenüber vom Rathaus, unten Abstellraum für Transparente, Stangen, Stelltafeln und Freizeitzentrum, oben Wohnung und Freizeitzentrum, Holger zeigte stolz ein Paket herum, angeblich mit einem Commodore VC 20 darin, dem Volkscomputer, „eben von Twele geholt“, weigerte sich aber, das Gerät auszupacken, Samos und Dosenbier, den ganzen Abend die erste LP von Ideal, „Blaue Augen“, „Rote Liebe“, „Hundsgemein“. Ich langweilte mich, mochte auch das Zeug nicht trinken, im Zeitungsstapel links vom Sofa fand ich eine alte Ausgabe des „Blick“, ein Anzeigenblatt, das damals jeden Sonntag gratis verteilt wurde.

Auf der letzten Seite, angeblich der Kulturteil, ein Artikel über Theo, in dem er als Schriftsteller gefeiert wurde. „Eduard Meyer. Der Professor mit dem großen Herzen“ hieß das Buch, das angepriesen wurde. Freilich kannte ich Eduard Meyer, jeder, der damals in Göttingen auf Lehramt studiert hatte, kannte ihn. Ede Meyer Jahrgang 1888, hatte seit 1933 in Heidelberg und Göttingen Philosophie und Psychologie gelehrt, nach 1945 die Entnazifzierung nicht geschafft und hielt zu meiner Zeit nur noch Proseminare ab, vor tausend Teilnehmern im größten Hörsaal des ZHG, weil man den Schein so leicht wie bei keinem anderen bekam und der Besuch zum Kult avanciert war. Einmal im Studentenleben mußte man es erlebt haben, wie er den Hörsaal betrat, seine Frau und seine Sekretärin, angeblich auch seine Geliebte, in gebührendem Abstand mit seinen beiden Aktentaschen hinter ihm, zum Pult schritt und sein Seminar zelebrierte, als sei er eine Pop-Ikone.

Kult, ja, aber „Professor mit dem großen Herzen“? Nur, weil man bei ihm den Schein nachgeworfen bekam? Für jemanden, dessen Karrierehöhepunkt im Dritten Reich gelegen hatte, fand ich es doch übertrieben, lachte laut und zeigte Karl-Heinz, dessen Bart damals noch nicht ganz die ZZ-Top-Länge erreicht hatte, den Artikel. Der mochte gar nicht lachen, vor allem nicht, als er hörte, daß es um Theo ging. Er griff in seine speckige Aktentasche und holte ein Flugblatt hervor, einen hektographierten Zettel mit der Überschrift „Hände weg von unseren Ärschen“. Theo war inzwischen Lehrer an der Hindenburgschule, dem Mädchengymnasium, hatte als Leiter der Foto-AG während der Dunkelkammerarbeit allzu engen Kontakt mit seinen Schülerinnen gesucht und dabei wohl auch ihre Hintern angefaßt. Im Flugblatt wurde gefordert, ihn aus dem Schuldienst zu entfernen, man hat ihn aber nur an ein anderes Gymnasium im Südkreis versetzt.

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Vier Jahre später an einem Montagmorgen im Stadtarchiv: Die Schreibkraft schien müde und mitgenommen und sah sich nicht in der Lage, schon vor der Frühstückspause die Bänder mit den Interviews abzuhören und zu übertragen, erzählte uns stattdessen einige Schnurren vom Schützenfest in Marklohe. Theo war auch da und hat sich nach Mitternacht schon ziemlich schwankend auf der Tanzfläche aufgebaut „Mein Herz ist nur für meine Frau da“, die kämpfte damals ihren letzten vergeblichen Kampf gegen ihren Krebs, „mein Schwanz aber für alle Frauen auf der Welt“, dabei mit der Linken gestikuliert und das Gleichgewicht gesucht, die Rechte auf die benannten Körperteile gelegt. Einige Männer grölten Beifall, einige Frauen quiekten belustigt, ansonsten blieb sein Auftritt folgenlos.

Theo glaubte so fest an die unterschiedliche Aufgabenstellung von Herz und Schwanz, daß er seine Äußerung in anderer Umgebung wiederholte, in der großen Pause im Lehrerzimmer des Gymnasiums, an das er nach seinen Übergriffen versetzt worden war, Wort für Wort, aber ohne die Gesten. Hier erntete er zunächst nur betretenes Schweigen. Als er dann wenige Wochen später auf einer Klassenfahrt vor den Augen seiner Schülerinnen und Schüler nachts zwei Prostituierte auf sein Zimmer kommen ließ, war es auch mit der Geduld seiner Kollegen vom Philologenverband zu Ende, sie schwärzten ihn bei der Bezirksregierung an und er wurde an eine Orientierungsstufe versetzt.

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Als wir wieder einige Jahre später, Anfang der 90er war es, ungenutzte Räume, ja, die gab es damals tatsächlich, in diesem ländlichen Gymnasium anmieteten, um dort Sprachkurse für Spätaussiedler abzuhalten, wußte ich noch nichts von dieser Entwicklung und fragte arglos nach. Nicht aus wirklichem Interesse, sondern um die Situation zu entkrampfen. Mein Gegenüber und Verhandlungspartner war ausgerechnet mein alter Mathematiklehrer aus der 13. Klasse, der mich wenige Monate vor dem Abitur als „Abschaum“ bezeichnet hatte, der auf dieser Schule nichts zu suchen habe. Ich erfuhr davon, verließ die Theaterprobe auf der Stelle, stürmte in seinen Physikunterricht: „Was haben Sie gerade über mich gesagt?“, grinsend mit verschränkten Armen. Er drängte mich aus der Tür und stieß mich die Treppe hinunter: „Du Sau!“ Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, weil ich ja inzwischen mein Abitur bestanden habe, keine Wiederholung mehr drohe und das öffentliche Interesse fehle. Nun saßen wir uns gegenüber und bemühten uns, nichts von dieser mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit anzurühren. Meine Frage nach Theo irritierte ihn, er schaute mich prüfend an, als suche er nach einer Falle darin. Nein, nach langer Pause, im Kollegium gebe es niemanden mit diesem Namen.

Er sei ein „ungerechter Arsch“ schimpfte die Tochter von Bekannten über ihren Klassenlehrer auf der Orientierungsstufe und so stieß ich im Urlaub auf Langeland bei Wildberry mit Orangensaft auf Eis unverhofft doch noch auf Theos Fährte. Der empfand die Versetzung als Degradierung, sah sich als Opfer nicht seines Verhaltens, sondern einer Intrige der „linken Ideologen von der GEW“, und ließ seinen Unmut darüber, tief unter seinem Niveau auch künftige Haupt- und Realschüler unterrichten zu müssen, vor allem an diesen Schülern und ihren Eltern aus. Im Unterricht, im Lehrerzimmer und am liebsten auf Elternversammlungen bezeichnete er sie und in einem Abwasch auch alle, die das an ihm zu kritisieren wagten, als „dumm wie Bohnenstroh“ und „unfähig“. Als sich die Beschwerden häuften und er deshalb vor die Bezirksregierung zitiert wurde, wiederholte er seine Anwürfe als Tatsachenfeststellungen. „Der merkt die Einschläge nicht mehr“, meine Gewährsfrau dazu.

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Am Ende stürzte Theo doch noch ab. Mit dem Flugzeug und endgültig. Für einen Werbeprospekt wollte er das Fahrgastschiff Nienburg aus der Luft fotografieren, mietete dafür eine zweisitzige einmotorige Cessna samt unerfahrenem gerade einmal 18-jährigen Piloten, bat den, über dem Schiff eine sehr langsame Kurve zu fliegen, damit er besser fotografieren konnte, das Flugzeug schmierte bei diesem Manöver ab, stürzte in die Weser, der Pilot und Theo ertranken. Das sei zwar ein Unglück für seine zweite Frau und seine beiden Töchter, für mich aber eine unverhoffte Chance, es doch noch in den Schuldienst zu schaffen, ich müsse mich nur auf die freiwerdende Stelle bewerben, setzten mir einige seiner Kollegen aus meinem Freundeskreis im Verein mit meiner Frau zu. Ich ließ mich überreden und bewarb mich, ungern und mit halbem Herzen nur, und wurde zu meinem Glück auch nicht genommen.

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3 Antworten zu Theo

  1. Erika sagt:

    😉 …. theo …ich mochte ihn… und karl-heinz auch. dessen bart ist mittlerweile grau und nicht mehr rot. wunderbares sittenbild aus NI … nur fehlt noch der jazzclub und der fresenhof .

  2. Pingback: Wahrnehmung und Wirklichkeit - Werkstatt

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