Novemberrevolution

Zweimal in ihrer Geschichte wurde die beschauliche Kleinstadt Nienburg an der Weser, die sonst nur für ihren Sand und ihren hervorragenden Spargel berühmt ist, von revolutionären Ereignissen heimgesucht.

„Das eine Mal als große Tragödie“ durch den Großen Glasarbeiterstreik von März bis September 1901, als 4000 Flaschenmacher in den Ausstand traten und ihre Auseinandersetzung um Löhne, Arbeitszeiten und die Wiedereinstellung entlassener Glasmacher trotz finanzieller Unterstützung aus halb Europa verloren. Weil Streikbrecher aus Karelien eingesetzt wurden, drang die Kunde sogar bis zu Lenin und der fand diesen Streik eine Analyse in seiner ein Jahr später erschienenen Schrift „Was tun?“ wert.

„Das andere Mal als lumpige Farce“, als in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 Matrosen aus Bremen an der Mittelweser eintrafen, sich sofort mit den dortigen revolutionären Soldaten und Arbeitern berieten und zunächst einen provisorischen Soldatenrat einsetzten.

Im weiteren Verlaufe des Vormittags schlossen sich auf dem hiesigen Rathause Verhandlungen an, die zur Hissung einer roten Fahne auf dem Rathause führten.

Um 8 Uhr morgens marschierten dann Soldaten und Arbeiter der beiden Nienburger Glashütten los, besetzten nacheinander das Garnisonskommando, das Bezirkskommando, das Postamt und den Bahnhof, ohne einen einzigen Schuß abgeben oder sonstwie gewalttätig werden zu müssen, und rückten schließlich auf das Rathaus vor. Dort erwartete nach Berichten von Zeitzeugen Bürgermeister Stahn die Meute schon mit schlotternden Knien und fürchtete um sein Leben, zumindest um seine Freiheit, aber eine Delegation forderte ihn nur auf, weiter im Amt zu bleiben und die Stadtverwaltung zu führen und bat um Erlaubnis, die oben erwähnte rote Fahne auf dem Rathausdach zu hissen.

Derweil hatten die Nienburger Sozialdemokraten in aller Eile einen Aufruf gedruckt und überall plakatieren lassen, in dem sie zu Ruhe und Ordnung aufriefen.

… aber hütet Euch vor Zersplitterung, vor Arbeiter-Bruderkrieg und vor Ratschlägen unverantwortlicher Elemente, die Euch zu unbesonnenem Losschlagen gegen Euer eigenes Interesse verleiten wollen. Folgt nicht den Parolen kleiner Gruppen und unbekannter Drahtzieher … Der unterzeichnete Vorstand legt der Bevölkerung Nienburgs, insbesondere der gesamten Arbeiterschaft dringend ans Herz, in Zukunft im Interesse der öffentlichen Sicherheit den obigen Aufruf zu beherzigen und vor allen Dingen Ruhe und Ordnung zu bewahren.

Die Revolutionäre, die gerade im Rathaus alles beim Alten belassen hatten, marschierten weiter zum Gasplatz, wo um 11 Uhr eine Versammlung zur Gründung eines Arbeiter- und Soldatenrats stattfand. Der provisorische Soldatenrat rief noch „zur unbedingten Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ auf, die Versammlung beschloß, auch „Frauen vom 21. Lebensjahre an“ das Wahlrecht zu gewähren, „die Lebensmittelversorgung unserer Stadt“ solle in Zukunft „unter Hinzuziehung je eines Mitgliedes des Soldaten- und Arbeiterrates stattfinden“, dann zog man nach nebenan ins „Deutsche Haus“ und wählte.

Die neue miltärische Ordnungsmacht in Nienburg

… überschrieb am Montag „Die Harke“ Nr. 265 vom 11. November 1918 die Bekanntgabe der gewählten 12 Arbeiter- und 12 Soldatenräte. Der Schluß der auch per Flugblatt verbreiteten ersten amtlichen Verlautbarung des Gremiums „Garnisonsältester bleibt Oberleutnat Hogrewe, Vertreter der Stadtverwaltung Bürgermeister Stahn“ zeigt die wilde Entschlossenheit, mit der man sich selbst kastrierte und auf keinen Fall auch nur ein Fitzelchen tatsächlicher Macht an sich reißen wollte.

Die Groß- und Kleinbürger, die sich an diesem Revolutionswochenende in ihren Häusern versteckt hatten, trauten sich bald wieder auf die Straße und nahmen den Sozialdemokraten die Meinungsführerschaft in der Lokalpresse schnell wieder aus der Hand. Der Arbeiter- und Soldatenrat meldete sich nur noch zu Wort, wenn er Geheimschlachtungen auf der Spur war, die fleischlosen Wochen vom 18. bis 24. November, 16. bis 22. Dezember und 6. bis 12. Januar überwachte oder Reis an Bedürftige verteilte, bis er sich nach wenigen Monaten unauffällig in Luft auflöste.

Alle schienen zufrieden zu sein, als wieder Ruhe eingekehrt war. Alle? Nein, einer nicht, der Holtorfer Volksschullehrer Jörns, der über den Verlauf der Revolution in Nienburg so enttäuscht war, daß er alles hinwarf und sich mit den Matrosen nach Wilhelmshaven aufmachte, um dort beim Soldatenrat mitzumischen. Wenige Tage nach der Ausrufung der Räterepublik versuchte er am 14. Januar 1919 auf der Seite der Marinesoldaten die AG Weser zu besetzen, wobei es zu Schießereien zwischen den Soldaten und kommunistischen Arbeitern mit mehreren Toten und Verletzten kam.

Am 4. Februar wurde die Räterepublik niedergeschlagen, der „berüchtigte Lehrer Jörn“ (Die Harke am 14. März 1919) wurde für seine Wilhelmshavener Aktivitäten zu sieben Jahren Festungshaft wegen Hochverrats und für seine Beteiligung an der Schießerei auf der Werft zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.

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Der Mann, der Karl Marx widerlegte

In der zehnten Klasse hatten wir einen Gemeinschaftskundelehrer, einen Dr. Dr. Weck, der seiner Partei, der FDP, den Rücken gekehrt hatte, weil sie ihm seinen Traum, niedersächsischer Kultusminister zu werden, nicht erfüllen wollte, und der von sich behauptete, einer der wenigen Menschen zu sein, die erstens Karl Marx tatsächlich gelesen haben, zweitens ihn auch verstanden und drittens sogar einwandfrei widerlegen könnten. Damals kannten wir selbst noch nichts von Marx, hatten noch nicht einmal etwas von Rudi Dutschke gehört, wollten den Oberstudienrat aber verlachen, heute, da in Sachen Marx nur noch mit dümmlichen Klischees gehandelt wird, gäbe ich sonst etwas dafür, mit dem Mann ernsthaft über seine Widerlegung zu diskutieren.

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Weltzentrum des Geizes

Wieder einmal nahm ich den Schleichpfad der Erinnerungen über Schessinghausen und den Nienburger Bruch. Dieses Mal bog ich aber an meinem Geburtshaus links ab.

Rechts der Friedhof, auf dem einst meine Großeltern lagen, die aber längst auf den großen Komposthaufen dort hinter der Familiengrabstätte der Gutsbesitzer entsorgt wurden. Links der Osterberg mit der Todesbahn, die der Maurer und Hausschlachter H. im Winter mit Wasser aus Zehnlitereimern für uns vereiste. Wenn man schnell und mutig genug war, schaffte man es bis zur Friedhofspforte, war man zu kühn, knallte man gegen einen Baum und wachte im Krankenhaus wieder auf wie Heiner B.

Am Ende eine scharfe Rechtskurve vorbei an Onkel Gerd, dem Briefträger mit der verkrüppelten Hand, der vor dem Krieg wohl Friseur war und uns Kindern immer noch die Haare schnitt, der Pißpottschnitt für eine Mark. Als Gleisbauarbeiter sich an der nahen Bahn auf einem Abstellgleis einen Waggon als Kantine mit Fernseh‘ eingerichtet hatten, verzichtete ich kurzentschlossen auf den Haarschnitt und gab das Geld für zwei Cola aus. Leider wollten mir meine Eltern das Märchen vom bösen Mann, der mir die Mark mit Gewalt abgeknöpft habe, partout nicht abnehmen.

Nach wenigen Metern hieß es links abbiegen. Linkerhand ein Häuschen mit Glasbausteinen statt Fenstern und einer Betonplatte als Vorgarten. Hier wohnte ein Mann von kurzer, kräftiger Statur mit Oberarmen wie Gerd Müllers Oberschenkel und militärischen Kurzhaarschnitt, der vor allem dadurch auffiel, daß er tagaus tagein einmal zum Bahnhof in die Kreisstadt radelte, immer in einem gelben Ostfriesennerz, nur eine Hand am Lenker, am ausgestreckten Arm einen Koffer, auf dem Hinweg links, auf dem Rückweg rechts. In einen Zug hat ihn nie jemand steigen sehen.

Als sich die Nachbarn beschwerten, „der ist bekloppt, der hat keine Gardinen und putzt seine Fenster nie“, hat er kurzerhand die Fenster herausgerissen und die Öffnungen mit Glasbausteinen zugemauert. Als die Nachbarn sich beschwerten, weil sich in seinem Garten der Müll türmte, schaufelte er eine ein Meter zwanzig tiefe Grube, warf alles hinein, schüttete Erdreich und Kies darauf, verdichtete die Füllung mit einem Handrüttler und versiegelte die Oberfläche mit einem zugegebenermaßen etwas unebenen Estrich.

Gebaut hatte sich das Häuschen die Familie Q. Der alte Q. war ein sparsamer Mann und ein wahrer Despot. In den Nachkriegsjahren durfte seine Frau keine neue Bekleidung für sich, die Tochter oder den Enkel kaufen, alles sollte sie aus Lumpen nähen. Für sich selbst machte der alte Q. aber eine Ausnahme. Ebenso bei der Butter, die für ihn reserviert war, während die Familie sich Margarine aufs Brot schmieren durfte.

Das ist meine Butter von meinem Geld, verdient euch selbst was, dann könnt ihr eure eigene Butter dafür kaufen.

Am knausrigsten war er beim Heizungsmaterial. Er kümmerte sich selbst um den Ofen und wenn er wochentags auf Arbeit war, durfte seine Frau genau ein Brikett verfeuern. Damit sie ihn nichtn dabei betrog, nummerierte er die einzelnen Stücke im Keller mit Kreide durch und gab morgens Anweisung, welche Nummer an diesem Tag an der Reihe war. Sie führte ihn trotzdem hinters Licht, verfeuerte nach der Nummer 35 noch die Nummer 36, griff nach hinten in den Stapel, wischte die 112 weg und schrieb die 36 darauf.

Kaum bekommt die Alte eine schöne Rente, da stirbt mir das Biest weg.

Frau Q. durfte ihre Rente wirklich nur ein paar Monate, aber der alte Q. konnte sich mit ihrem Tod nicht abfinden, am wenigsten mit dem Verlust der paar Mark Rente, deshalb griff er sich eines Nachts eine Schaufel, schlurfte die 150 Meter zum Friedhof und begann bei Mondschein, seine Frau wieder auszubuddeln. Zu seinem Glück blieb das nicht unbeobachtet, er wurde mit sanfter Gewalt gehindert, weiterzugraben, abgeholt, gründlich untersucht, unter Betreuung gestellt und in ein Heim eingewiesen. Das Häuschen kaufte sich dann der Herkules im Ostfriesennerz.

Familie K. gegenüber übertraf den alten Q. sogar noch im Geiz, bewohnte im Haus praktisch nur das Schlafzimmer und hielt sich ansonsten in einer Art Futterküche im Stallgebäude auf. Er arbeitete drei Schichten in der Glasfabrik, dazu die kleine Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Schweine, Hühner, Gänse und Kaninchen, aber nicht für den Eigenbedarf, nein, alles wurde verkauft, für sich selbst behielten die beiden nur die Abfälle, bereiten zum Beispiel aus den abgeschnittenen Gänsefüßen „Wickelpoten“. Daneben wurde von beiden abwechselnd die Zeitung ausgetragen und die Beiträge für Volksfürsorge, Gewerkschaft und SPD kassiert. Trotzdem schimpfte Frau K. ihren Mann einen Faulpelz, weil er sich für die fünf schichtfreien Tage keine zusätzliche bezahlte Arbeit suchte.

Kinder hatten sie keine. Wie auch, wenn sie Tag und Nacht nur schufteten. Geld brauchten sie auch fast keines, alles legten sie auf die hohe Kante, für später, wenn sie einmal alt seien, sagten sie, damit sie dann nicht darben müßten. Aber wie es so kommt, als sie in Rente gingen, knauserten sie weiter, legten jetzt die Rente auf die hohe Kante … und das Sparbuch wuchs und wuchs. Sie konnten nicht aufhören mit dieser Lebensweise, wohl getrieben von traumatischen Hungererfahrungen aus der Kriegszeit sparten sie weiter bis zum letzten Atemzug.

Das Vermögen teilte eine Erbengemeinschaft aus entfernten Verwandten unter sich auf, über das Haus konnte man sich nicht einig werden, so zerfiel es, obwohl bis auf das Schlafzimmer unbewohnt, zu einem Denkmal übertriebenen Fleißes und übertriebener Sparsamkeit.

Weltzentrum des Geizes
Und immer, wenn ich auf dem Weg zu meinen Eltern über den holprigen Weg zwischen den beiden Häusern entlang fuhr, ergriffen mich die seltsamen Vibrationen dieses Weltzentrum des Geizes.

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Henry Ritzer, Widerstandskämpfer

April 1984

Im Hinterzimmer der Gaststätte, in der über Jahrzehnte der 1. Mai, der Kampftag der Arbeiterbewegung, als behäbige Saalveranstaltung durchgeführt wurde, sitze ich mit 21 DGB-Senioren und dem Leiter der Veranstaltung bei Bier, Kaffee und Kuchen in gemütlicher Runde und sie erzählen mir etwas, das ich aufschreiben und der Nachwelt erhalten soll. An diesem Nachmittag erzählen sie eine ungeheuerliche Geschichte, die schwere Empörung in mir auslöst.

1. Mai 1932

Der Sägewerksbesitzer, Fabrikant und überzeugte Nationalsozialist E. läßt auf seinem Fabrikschornstein die Hakenkreuzfahne hissen. Diese Provokation an diesem Tag und in dieser „roten“ Kleinstadt kann die Arbeiterbewegung nicht auf sich sitzen lassen. Als der Umzug am Sägewerk vorbeimarschiert, stürmt ein kleiner Trupp das Fabrikgelände, der Sanitäter H. klettert den Schornstein hoch und reißt die Hakenkreuzflagge herunter. Darauf hat der Fabrikant E. nur gewartet. Mit geladenem Jagdgewehr eilt er herbei, treibt die Genossen in die Flucht und schießt den Sanitäter H. von der Leiter, der kurz darauf seinen Verletzungen erliegt. Von der bürgerlichen Presse sei das Ereignis totgeschwiegen worden, eine gerichtliche Verfolgung des Todesschützen habe nie stattgefunden.

Mai 1984

Da ich Zugang zum Archiv der lokalen Tageszeitung habe, gehe ich die Ausgaben der ersten Maiwoche 1932 durch. Am Montag, dem 2. Mai 1932 findet sich ein kleiner Artikel über den Umzug und eine Kundgebung, aber kein einziges Wort über den Zwischenfall. Auch an den Tagen danach: nichts. Bin ich einer Riesenschweinerei auf der Spur? Der Leiter des Stadtarchivs, ein CDU-Mann, empfiehlt mir, ein Interview mit Henry Ritzer zu führen, einem alten Widerstandskämpfer, der nach dem Krieg auch einmal Bürgermeister gewesen sei, der könne mir sicher Auskunft geben.

Juli 1984

Bewaffnet mit dem obligatorischen Kassettenrekorder sitze ich Henry Ritzer gegenüber, einem kräftigen, großen Fünfundsiebzigjährigen mit einem schönen Bass. Bevor ich das Gerät einschalten darf, werde ich erst einmal examiniert: meine politischen Überzeugungen, mein Wissen über die Weimarer Republik und das Dritte Reich, meine Faschismustheorie, meine politische Praxis. Er scheint zufrieden zu sein mit meinen Antworten und auch ich bin beeindruckt, als der alte Agitator mit ihm durchgeht und er mir noch einige Exemplare der Zeitschrift Arbeiterpolitik in die Hand drückt. Dann geht es los.

Zunächst einige Erlebnisse aus der Jugend. Mit noch nicht einmal 14 Jahren beginnt er noch in der Inflationszeit eine  Lehre in einer Anwaltskanzlei. Er muß am Samstag arbeiten und kann den Wochenlohn nicht mehr ausgeben. Am Montag bekommt er gerade noch einmal eine Kugel Eis dafür. In diesem Jahr tritt Henry Ritzer der Arbeiterjugend bei, später der SPD.

In der Weltwirtschaftskrise geht es mit der Kleinstadt bergab. Eine der beiden Glashütten muß 1932 schließen. 2000 Menschen stehen buchstäblich auf der Straße. Täglich vor dem Arbeitsamt, denn damals muß man sich noch jeden Tag einen Stempel abholen, um am Ende der Woche das Arbeitslosengeld ausbezahlt zu bekommen. Henry Ritzer muß jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit an der langen Schlange vorbei und sich die übelsten Beschimpfungen anhören. Seit der Zustimmung der sozialdemokratischen Minister zum Panzerkreuzerbau entfernt er sich politisch immer mehr von der SPD und gründet 1932 eine Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), die auch die Partei Willy Brandts war.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten arbeitet Henry Ritzer im Untergrund weiter und nimmt am antifaschistischen Widerstand teil. Auch als 1937 die meisten illegalen Strukturen der SAPD von der Gestapo zerschlagen sind, gelingt es ihm, weiter den Kontakt zu den Bremer Genossen zu halten. Die Treffen und Besprechungen finden immer zu den Heimspielen von Werder Bremen im Stadion statt, eine Tarnung, die bis zum Kriegsende nicht auffliegt, was Henry Ritzer aber nicht davor bewahrt, in ein Strafbataillon eingezogen zu werden.

1946 kehrt Henry Ritzer aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, geht wieder in die SPD, hält aber immer noch engen Kontakt zu den Bremer Genossen aus dem Widerstand, die sich zur Gruppe Arbeiterpolitik organisieren. Kurt Schumacher wird auf ihn aufmerksam, macht ihn zum Ortsvereinsvorsitzenden, später ist er für kurze Zeit sogar Bürgermeister der Stadt. Den Sozialdemokraten mißfällt, daß Henry Ritzer regelmäßig Treffen und Schulungen mit Gewerkschaftern abhält, zu denen er als Referenten seine Genossen aus der Gruppe Arbeiterpolitik einlädt. Die SPD versucht, ihn hochzuloben, doch er bleibt seinen Überzeugungen treu und lehnt die Posten des Stadtdirektors, des Regierungspräsidenten und auch die Leitung des Landesarbeitsamtes ab. Ein Parteiausschlußverfahren mißlingt und endet mit einem bloßen Funktionsverbot.

Zu den Ereignissen, die den Sanitäter H. das Leben gekostet haben sollen, hat Henry Ritzer eine andere Erinnerung als die 21 Gewerkschaftssenioren. Die Schießerei habe zu anderer Gelegenheit stattgefunden und der Sanitäter habe überlebt.

Juli 1932

Zum Roten Sommerfest, daß die Industriearbeiterschaft als Gegenstück zum bürgerlichen Scheibenschießen feiert, läßt der Sägewerksbesitzer, Fabrikant und überzeugte Nationalsozialist E. auf seinem Fabrikschornstein die Hakenkreuzfahne hissen. Für die Feiernden an diesem Tag und in dieser Stadt eine Provokation, die man nicht auf sich sitzen lassen kann. Als der Umzug am Sägewerk vorbeimarschiert, stürmt ein kleiner Trupp das Sägewerksgelände, der Sanitäter H. klettert den Schornstein hoch und reißt die Hakenkreuzflagge herunter. Darauf hat der Fabrikant E. nur gewartet. Mit geladenem Jagdgewehr eilt er herbei, treibt die Genossen in die Flucht und schießt dem Sanitäter H. eine Ladung Schrot in den Hintern, so daß der im Krankenhaus behandelt werden muß.

August 1984

Die Senioren, denen ich das vorhalte, werden wütend. Der Mann lüge und Bürgermeister sei er auch nie gewesen. Dabei belegen die schriftlichen Quellen die Version Henry Ritzers. Im Juli 1932 findet sich eine entsprechende Meldung in der Zeitung. Außerdem ist der Sanitäter H. im Telefonbuch von 1939 noch quicklebendig vorhanden.

Mit der Erinnerung ist es eine seltsame Angelegenheit. Sie wird weniger von den erlebten Ereignissen geprägt als von der eigenen Geschichte danach und der gegenwärtigen persönlichen Lage. Anders als Henry Ritzer haben die Gewerkschaftssenioren des Gesprächskreises den Nationalsozialismus nicht aktiv bekämpft, sondern sie haben sich in das aus ihrer Sicht Unvermeidliche gefügt. In ihrer kollektiven Erinnerung erscheint deshalb die Schrotladung auf den Hintern des Sanitäters H. als Symbol für die Brutalität, Stärke und Unüberwindlichkeit des Nationalsozialismus und gleichzeitig für die Richtigkeit ihrer damaligen Passivität.

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Karl M.

Immer, wenn ich nach Feierabend zur Abwechslung einmal meine Eltern besuchen wollte, fuhr ich diesen Schleichweg der Erinnerungen: runter von der Bundesstraße, durch Schessinghausen und den Bruch über den Meerbach und den unbeschrankten Bahnübergang hinein ins heimatlich Gruselige. Oder gruselig Heimatliche? Sei’s drum.

Unmittelbar hinter der Bahn begann es sich zu entfalten. Links der Kiefernwald, rechts die Siedlungshäuschen aus den 50ern, im ersten wohnt wohl immer noch mein Freund Richard, sein Vater hat dort seine Mutter mit einem Taschenmesser umgebracht, er seiner ersten Frau im Liebesrausch einen Nippel abgebissen, die Häuser meiner Onkel, Tanten, Cousinen, blitzsauber, gepflegt, Kühlhaus, Schützenhaus, das Dorfgemeinschaftshaus auf dem Gelände der ehemaligen Sauerkrautfabrik. Und nur, weil ich an diesem Tag nicht an meinem Geburtshaus abgebogen bin, Friedhof und Kunststoffklitsche links liegen gelassen habe, wurde mir unten an der Kreuzung, wo die Bundesstraße das Dorf in Ober- und Unterdorf zerschneidet, diese göttliche Szene geboten.

Genau dort, wo einst der Laden von Brandts Louise nebst Poststelle und Kohlenhandel sowie Kastanien- und Eichelankauf stand, bewegte Karl M. auf dem Feldweg eine Schubkarre mit Mist in Richtung Friedhof, gut genährt, wie immer in dunklem Anzug, weißem Hemd und dezent gemusterter Krawatte mit doppeltem Windsor, sein einziges Zugeständnis an den Mist, den er karrte, waren die Gunmmistiefel an seinen Füßen.

Karl gehörte an diesen Ort, ohne Zweifel, das war seine Kreuzung. Schon, als ich noch die gegenüberliegende Zwergschule – 1. bis 4. Klasse bei Lehrer Marquardt, 5. bis 8. Klasse bei Lehrer Goschke – besuchte, stand er bei Brandts Louise hinter der Ladentheke und verkaufte uns lose Sahnebonbons für zwei Pfennig das Stück aus dem großen Glas, wenn wir uns in der großen Pause heimlich über die gefährliche Bundesstraße geschlichen hatten. Oder er war in der Poststelle im Nebenzimmer zu finden und Ilona, die sich mit ihrer Farah-Diba-Frisur für die schönste Frau des Dorfes hielt und mit Karl verheiratet war, verkaufte uns Bonbons oder Wundertüten mit Sigurd-Piccolos. Womit Karl auch beschäftigt war und wo er sich auch gerade aufhielt, stets trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, der ihm wie eine zweite Haut war und in dem er geboren schien.

Der Laden von Brandts Louise, als Karl ihn übernommen hatte.

Als sich der Nachfolger von Brandts Louise von seinen Geschäften trennte, übernahm Karl den Laden, und als wenig später die alte Dame starb, wurde das Haus abgerissen und Karl baute schräg gegenüber einen Supermarkt einschließlich Postamt und einer großzügigen Wohnung im ersten Stock.

Karls große Zeit begann. Ihm gehörte das einzige Lebensmittelgeschäft im Dorf und gleichzeitig leitete er die Poststelle als Beamter. Zu dieser Zeit lohnte es sich, von ihm als Freund angesehen zu werden. Dann mußte man sich im Sandkrug oder in der Linde nur zu ihm setzen und konnte den ganzen Abend saufen, ohne auch nur einen einzigen Pfennig dazubezahlen zu müssen. Ebenso bei den beiden Schützenfesten und beim Kirmes. Am Sonntagmorgens traf man sich in seinem Getränkelager zum Frühschoppen, setzte sich einfach auf die Bierkisten und griff unter sich, wenn man Durst verspürte.

Das Nachtleben in der Kreisstadt war ohne Karl und seinen Freundeskreis auch nicht denkbar, erst in der Bodega-Bar und, als die dann schloß, in der Stern-Bar – aber die strahlte die trostlose Atmosphäre eines Wartesaals dritter Klasse aus mit Animierdamen, die einen Flunsch zogen, wenn man sich ihnen näherte. Wenn die Horde um Karl also etwas mehr wollte, als sich zu besaufen, zog sie weiter ins Eros-Center am Berge, das von der Kaserne bequem über die Fußgängerbrücke zu erreichen war. Und auch hier war Karl großzügig und bezahlte stets die gesamte Rechnung. Dazu fuhr er noch jedes dritte Wochenende nach Polen, wo er eine Geliebte sitzen hatte, von der seine Frau aber nichts wissen durfte.

Ein Leben in Saus und Braus, von Freunden und Frauen umschwirrt, von den Männern im Dorf beneidet. Und jetzt schob dieser Mann schwitzend eine Karre mit Mist den Feldweg entlang und der Supermarkt sah merkwürdig leer und geschlossen aus, obwohl es noch lange nicht 18 Uhr war. Meine Mutter wußte, wie es dazu kam.

Als die Geschäfte für Dorfläden immer schlechter liefen, sah Karl es nicht ein, seinen ausschweifenden Lebenswandel etwas einzuschränken, er hatte ja noch seinen Beamtenposten und konnte lange von der Substanz zehren, und als die aufgebraucht war, machte er eben Schulden. Um doch wieder auf den grünen Zweig zu kommen, spielte er jede Woche für mehrere hundert Mark Lotto, aber der große Treffer wollte nicht glücken und die Schulden wuchsen umso schneller. Deshalb löste er das mehrere tausend Mark schwere Sparbuch der Enkeltochter auf, auch dieses Geld war schnell wieder verbraucht. Die Lieferanten wollten inzwischen nur noch Bargeld sehen und seine Verkäuferinnen bemühten sich deshalb jeden Abend, die Kasse vor Karl in Sicherheit zu bringen, um am nächsten Morgen die Ware bezahlen zu können und dem Dorf die Einkaufsquelle zu erhalten, solange es irgendwie ging.

Im letzten Akt bediente sich Karl bei der Post, leitete das Geld, das für Nachnahmesendungen kassiert wurde, nicht weiter, sondern finanzierte damit seine Lotto-Systemscheine. Diese Unterschlagung flog sehr schnell auf, Karl wurde suspendiert, kam vor Gericht, wurde wegen Betrugs verurteilt und verlor dadurch nicht nur sein Geschäft, sondern auch noch die sichere Beamtenstellung, das Dorf das einzige Lebensmittelgeschäft und die Poststelle. Das Gebäude, in dem einige Jahre der Kindergarten untergebracht war, ist inzwischen an eine „Pizzeria Ivana“ verpachtet.

Karl hatte zwar alles verloren, nicht aber seine Haltung und seinen angeborenen Anzug. Den trug er nun tagsüber, wenn er für ein paar barmherzige Flaschen Bier einem Mondscheinbauern bei dessen Landwirtschaft helfen durfte, und nachts wieder in der Stern-Bar, jetzt allerdings nicht mehr als Stammgast vor der Theke, sondern als Schankkellner dahinter.

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Gartenzwerg

Da lachen ja die Hünner.

So stand es im Lokalteil der Tageszeitung, Wort für Wort unredigiert abgedruckt, mit allen Rechtschreibfehlern, nicht hinten als Leserbrief unter den Vereinsnachrichten versteckt, nein, gleich links auf der ersten Seite in der Kommentarspalte „Unter der Briefmarke“. Am schlimmsten war, daß jeder im Dorf wußte, wer diesen Brief geschrieben hatte, diesen kompletten Unsinn einer riesigen Verschwörung des Kettensägeherstellers, der Behörden, der Polizei, seines vermeintlichen Vaters und nicht zuletzt der Siegermächte allein gegen ihn, und wir uns deswegen tagelang vor lauter Scham nicht aus dem Haus trauten.

Leider war er unser Onkel, Gartenzwerg, wie ihn alle nannten, ein kleiner, hagerer Mann mit noch kleineren, listig blickenden Augen, der zweite Mann unserer Tante Alma. Auch Erwin, ihren ersten Mann überragte sie um einen ganzen Kopf, aber der machte dabei wenigstens einen wohlgenährten und gemütlichen Eindruck. Onkel Erwin mochten wir, er verdiente sein Geld als Handlanger auf dem Bau, war nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet, aber gutmütig. Da er selbst keine Kinder hatte, spielte er gern den Weihnachtsmann für die Cousinen, meinen Bruder und mich und fiel höchstens durch seine hilflosen Versuche auf, aus ungemahlenen Bohnen Kaffee zu kochen.

Aber er starb lange vor der Rente, das Siedlungshaus, das er vorwiegend mit eigenen Händen gebaut hatte, war gerade fertig. Tante Alma wartete das Trauerjahr ab, gab dann eine Heiratsanzeige auf und erwählte unter den zwei Dutzend Bewerbern ausgerechnet Gartenzwerg. Er war der einzige, der ihr mit Schreibmaschine geschrieben hatte, und das imponierte ihr gewaltig.

Da lachen ja die Hünner.

Es war die Geschichte mit der Kettensäge. Niemand wußte, wozu er eine Kettensäge brauchte, aber er bestellte sich eine im Versandhandel und als sie geliefert wurde, packte er sie sofort aus, überprüfte sie, indem er sie in ihre Einzelteile auseinandernahm – – – und bekam sie nicht mehr zusammengesetzt. Für Gartenzwerg ein willkommener Anlaß für eine wütende Reklamation, einige geharnischte Briefe, eine Klage, die er natürlich verlor, wie alle anderen Klagen auch, und für den peinlichen Brief in der Tageszeitung.

Das wäre ein Grund gewesen, jeden Kontakt mit ihm zu vermeiden. Aber wir hatten keinen Fernseher – unser Vater lehnte die Anschaffung ab, „weil ich dann nur noch vor der Glotze hänge“ – Gartenzwerg und Tante Alma hatten einen und sie waren die einzigen, die meinem Bruder und mir erlaubten, bei ihnen „Simon Templar“ und „Mit Schirm, Charme und Melone“ zu sehen. So führte uns der Weg an einem Abend in der Woche zu den geliebten Krimiserien und zu Gartenzwergs Prahlereien und Verschwörungsgeschwurbel.

Farbfolie für ein paar Pfennige von Leseberg.

Ein Aufschneider vor dem Herrn war er, darin übertraf er sogar noch Käpt’n Blaubär. Als 1967 das Farbfernsehen aufkam, tönte er, es sei nicht nötig, „zwoeinhalbtausend, wer hat das schon“ für die neue Technologie hinzublättern, er kriege das mit „Ganzzimmerantenne“ und etwas „Farbfolie für ein paar Pfennige von Leseberg“ „ganz allein und viel billiger“ mit dem alten Schwarzweißgerät hin. Daraufhin wurde das Wohnzimmer ausgeräumt, Wände und Decke mit Aluminiumfolie tapeziert, mit einigen Drähten an die Antennenbuchse angeschlossen – die „Ganzzimmerantenne“ – und Buntpapier in den Grundfarben vor den Bildschirm gehängt. Fertig war der Farbfernseher Marke Gartenzwerg. Selbstverständlich funktionierte das nicht, aber Gartenzwerg war nicht davon abzubringen, auf dem richtigen Weg zu sein, „mit ein paar kleinen Verbesserungen“ liefe das irgendwann, wir seien nur zu blöd, das zu erkennen. Nach drei Tagen gab er endlich auf, Tante Alma hatte eine Woche zu tun, Stube und Fernseher in den alten Zustand zurückzuversetzen, und mein Bruder und ich hatten zweimal John Steed und Emma Peel verpaßt.

Ich weiß genau, wo der letzte Zeppelin liegt.

Folgenreicher als solche dummen Streiche war seine fixe Idee, er sei der uneheliche Sohn eines Großbauern, auf dessen Hof seine Mutter gearbeitet hatte, und habe infolgedessen ein Anrecht auf ein beträchtliches Erbe, zu dem vor allem der Acker gehören sollte, unter dem der letzte Zeppelin verborgen sei. Den gelte es zu bergen, in großer Zahl nachzubauen, den zweiten Weltkrieg wiederaufzunehmen und mit dieser unschlagbaren Waffe zu gewinnen.

Oft haben wir auf dem Nachhauseweg über diese Spinnerei gefeixt, aber Gartenzwerg meinte es ernst, fand einen Rechtsanwalt, der die Goldgrube erkannte, die sich ihm da auftat, und führte mehrere Prozesse um sein angebliches Erbe, die er samt und sonders verlor. Eines Tages waren dann alle Ersparnisse von Tante Alma verbraucht und das Häuschen mußte versteigert und gegen eine Bruchbude eingetauscht werden. Gartenzwerg war auch dadurch nicht zu stoppen. Er prozessierte weiter und als auch die Bruchbude unter den Hammer kam, suchte er sich eine neue Frau, die ihm seine Spinnereien abnahm und ihn in der Hoffnung auf das Millionenerbe noch eine Weile finanzierte. Tante Alma aber starb wenig später völlig verarmt und einsam in einem kalten und feuchten Zimmer, das nur mit einem Bett, einem Stuhl und einem kleinen Schrank möbliert war.

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Onkel Willi

Meine sehr verehrten Damen und Herrn. Es ist 22 Uhr. Sollten sich hier kleine Mädchen beziehungsweise lüttsche Jungs unter 16 aufhalten, bitte ich sofort das Lokal zu verlassen. Ich erinnere Jugendschutzgesetz.

Bei dieser ersten Durchsage des Abends bekam er die Worte noch einwandfrei aneinandergereiht. Später stieg mit dem Alkoholpegel auch der Unterhaltungswert. Onkel Willi, Wirt eines Dorfgasthauses am Steinhuder Meer, das sich Anfang der 70er zu einem der beliebtesten Szenetreffpunkte der Region entwickelt hatte. In Hannover, Bremen und Bielefeld wartete die Drogen konsumierende und Krautrock hörende Jugend vor den einschlägigen Diskotheken und bettelte um Mitfahrgelegenheit nach Münchehagen.

In den 30ern hatte sich Onkel Willi wenig um Volk, Führer und Vaterland geschert, sondern ist lieber mit seiner Harley Davidson über die masurischen Alleen gebraust. Nach dem Krieg verschlug es ihn ans Steinhuder Meer, wo er dann Weihnachten 1963 im Münchehagener Hof mit seiner Tante Martha die Musikkneipe Kanbach eröffnet. Anfangs spielten dort jeden Samstagabend Beatgruppen auf, was den üblen Ruf des Lokals begründete.

Die Dorfjugend ging im schönsten Sonntagsanzug zu solchen Veranstaltungen und schlug sich als Höhepunkt auf dem damals noch unbefestigten Parkplatz die Nasen blutig, gab die verdreckte Kleidung am Montag in die Reinigung, um am nächsten Wochenende das Spiel von vorne zu beginnen. Wenn die Musik nicht gefiel, wurde zur Abwechslung die Band aus dem Saal geprügelt, wenn die Musik gefiel, durften die Jungs mit der Gunst von Onkel Willis jüngster Tochter rechnen. Ein Klassenkamerad, der später in einer schlagenden Verbindung landete, berichtete, er sei glücklich durch den Vorraum gelangt, aber bei Betreten des Saals jemandem in die Quere gekommen und nach zwei Sekunden durch beide Türen in hohem Bogen auf die Straße geflogen. Das genügte, um mich lange von diesem üblen Ort fernzuhalten.

Meine Damen, Herren. Geschäft ist Geschäft. Und ich spreche jetzt gegen mein Geschäft. Wir haben Fanta, Cola, Brause. Alkohol am Steuer. Führerschein. Ein Führerschein ist schnell erworben, aber noch schneller verloren.

Die zweite Ansage des Abends, immer kurz vor Mitternacht, war schon weniger verständlich. Man war größtenteils anders berauscht und belachte die Warnung. Onkel Willi hatte es zwischenzeitlich aufgegeben, Bands spielen zu lassen, und stattdessen zwei Discjockeys verpflichtet, die in der hannoverschen Krautrockszene (Eloy, Jane, Dull Knife) verankert waren, und hatte dem Laden ein einzigartiges Konzept verpaßt: kein Eintritt, kein Verzehrzwang, der Ansturm allein bewältigt von Onkel Willi (huldvoll schwankend dirigierend), Tante Martha (Frikadellen und Pommes), zwei Töchtern nebst Schwiegersöhnen und dem kleinen schwulen Kellner, der den ganzen Abend nicht zur Ruhe kam.

Unten tranken die meisten Besucher nur Cola, trotzdem floß das Bier in Strömen: war ein Faß angestochen, wurden die Gläser darunter weggeschoben, bis es leer war. Der Bierumsatz von einem einzigen Samstag hätte mir gereicht. Oben war es etwas ruhiger und es gab vor allem Urbock aus Flaschen.

Und es war immer rammelvoll. Vor dem Eingang die Leute, die dir etwas verkaufen wollten. „Bester Afghane!“ „Acid!“ „Koks!“ „Ädsch!“ „Nur Jesus macht wirklich high, Alter!“

Nichts in der spießigen Einrichtung unterschied das Kanbach von anderen Dorfgasthöfen mit Saal und ließ auf eine Szenediskothek schließen. Vorne rechts neben der Tanzfläche die kleine Fixerecke. In eine hatte ich mich verguckt, die wirkte aber unnahbar. Nur, wenn Stolle nach Mitternacht den Bolero auflegte, betrat sie die Tanzfläche und alle machten ehrfürchtig Platz, selbst ich, der sonst immer mehrere Quadratmeter für sich beanspruchte.

Im Gang dahinter die Kiffer, links daneben und auf den Tischen an der Stirn der Tanzfläche die Leute, mit denen ich mich herumtrieb. Links neben der Tanzfläche die Theke, im Gang dahinter Kicker und Billard, an diesen Plätzen hielt sich bevorzugt die einheimische Dorfjugend auf.

Und Onkel Willi bewegte sich in diesem bunten Haufen wie ein Fisch im Wasser, majestätisch schlurfend und schwankend, stets in Filzpantoffeln. Es gab auch Gerüchte, in seiner Nähe solle es verdächtig süßlich gerochen haben, aber ich selbst habe das nie wahrgenommen und halte es auch für wenig wahrscheinlich.

Bella, bella, bella Marie,
häng‘ Dich auf,
ich schneid‘ Dich ab in der Früh‘.

Nicht immer, nur wenn er besonders gut drauf war, stellte sich Onkel Willi auf die Tanzfläche und gab diese Version der Capri-Fischer zum Besten.

Noch seltener war ein vierter Auftritt, zu dem er oft genug mitten in einem Stück die Musik unterbrechen ließ und herrisch vom Discjockey das Mikrofon orderte. Dann stellte er sich wieder mitten auf die Tanzfläche, und forderte die beiden „schönsten Mädchen“ auf, sich für einen „einmaligen Auftritt“ zu ihm zu gesellen. Hatten die sich gefunden, stellte er sie links und rechts neben sich auf und begann wie auf dem Fischmarkt.

Meine Damen und Herren. Beim ersten Mal sehen Sie nichts. Beim zweiten Mal sehen Sie gar nichts. Und beim dritten Mal sehen Sie, was Sie beim ersten und beim zweiten Mal nicht gesehen haben, nämlich überhaupt nichts! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Einmal, am Neujahrsmorgen 1972 um 3 Uhr in der Frühe gab es noch einen fünften Auftritt. Da torkelte Onkel Willi auf der Straße herum und sprach die Jugendschutzansage von 22 Uhr in ein leeres Colaglas.

Vielleicht war dieser Moment schon der Höhepunkt der Epoche. Das Publikum begann, sich langsam und fast unmerklich zu ändern. Aus den Großstädten fanden immer weniger den Weg, dafür rückten auch Leute nach, die nicht so friedlich gestimmt waren und denen nach körperlicher Auseinandersetzung war. Trotzdem blieb es noch meine zweite Heimat, hier verbrachte ich weiter möglichst vier Abende in der Woche, bis ich dann vier Jahre nach meinem Abitur doch noch anfing zu studieren und mich nach Göttingen aufmachte. Danach bin ich vielleicht noch ein halbes Dutzend Mal im Kanbach gewesen, aber Onkel Willi hatte man inzwischen zu Grabe getragen und ich habe ihn nie wieder erleben dürfen.

R.I.P.

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Rüdiger

Anfang November nachts um halb zwei mit Badekappe, Taucherbrille und einskommazwei Promille in verkehrter Richtung in die Einbahnstraße. Ich saß daneben und hatte noch gewarnt: „Rüdiger, das ist eine Einbahnstraße!“ „Bleib cool, ich fahre hier immer durch. Das ist eine Abkürzung.“ Am Ende standen sie schon, lässig an ihren Wagen gelehnt und winkten uns an die Seite. Rüdiger mußte mit auf die Wache zur Blutprobe und ich stand wieder einmal mutterseelenallein auf der Straße, hatte niemanden, der mich zurück in mein Kellerzimmer nach Schulenburg brachte, und auch kein Geld für ein Taxi. Da blieb mir nichts anderes als der Fußweg zurück zu den Leuten, bei denen wir Rüdigers Geburtstag gefeiert hatten, um dort auf dem harten Fußboden zu schlafen.

Die Unannehmlichkeiten der Nacht waren schnell vergessen, aber Rüdiger wurde seinen Führerschein für neun Monate los. Zu allem Unglück war auch ich damals für eine noch längere Zeit ohne. Freitag, Samstag und Sonntag fuhren wir normalerweise ins Kanbach nach Münchehagen. Das mußten wir jetzt einschränken. Was viel schlimmer war, wir konnten einen vielversprechenden Anbandelungsversuch nicht fortführen.

Klaus, Rüdiger und ich suchten damals gemeinsam eine Wohnung in Hannover. Gefunden haben wir keine. Die einzige, die wir hätten kriegen können, war mit der Toilette in der Küche und die wollten wir nicht.

Die trennen Sie mit einem Vorhang ab, da sind Sie praktisch allein und unsichtbar beim Scheißen, meine Herren, Möbel holen Sie sich aus dem Keller, was Ihnen gefällt, und Damenbesuch, Damenbesuch, so viel und so oft Sie wollen.

Um überhaupt eine Chance zu haben, mußte man der erste Anrufer auf eine Wohnungsanzeige sein. Deshalb versammelte sich jeden Freitag gegen 23 Uhr immer ein größerer Haufen Wohnungssuchender vor dem Anzeigerhochhaus in der Goseriede und wartete, bis der ältere Herr mit Moped und einem Anhänger voll mit den ersten Exemplaren der Samstagausgabe durch den Torbogen geknattert kam, stellte sich ihm in den Weg und kaufte ihm ein paar Zeitungen ab. Er durfte zwar keine an uns verkaufen, es blieb ihm aber nichts anderes übrig, wenn er seine Tour fortsetzen wollte.

Klaus besetzte immer rechtzeitig eine Telefonzelle an der Ecke Otto-Brenner-Straße, Rüdiger, unser Schnellster, riß den Teil mit den Wohnungsanzeigen an sich und rannte los, ich trottete mit dem Rest der Zeitung hinterher. Die Vermieter fühlten sich durch diese nächtlichen Anrufe meist nur belästigt, vor allem, wenn sie hörten, daß drei junge Männer eine WG aufmachen wollten. Für uns ein Grund, über diese unfreundlichen Menschen zu lästern und bei mir noch einen Absacker zu nehmen.

Bei dieser Gelegenheit stießen wir auf eine Bekanntschaftsanzeige, die uns elektrisierte. Zwei junge Frauen suchten zwei „verrückte Typen“, mit ihnen an den Wochenenden etwas zu unternehmen und sie an die Orte zu kutschieren, an denen etwas los war. Zu zweit waren wir – Klaus war vergeben und aus dem Rennen – und verrückt genug fühlten wir uns auch, ohne Frage. Aber wie ihnen das klar machen und die Konkurrenz ausstechen? Wir entschlossen uns, keinen Brief zu schreiben, sondern einen Comic zu zeichnen. Rüdiger als angehender Grafiker zeichnete, ich zog mir meine Schriftstellerjacke (Feincord, beige-braun) an und lieferte den Text. Unser Comic gefiel, Briefe hin und her, ein erstes Treffen war schon abgemacht. Doch Badekappe, Taucherbrille und Einbahnstraße stellten sich dazwischen. Ohne Fahrzeug und Führerschein kein Treffen. Klaus bot noch an, für einen von uns einzuspringen und zu fahren, aber da weder Rüdiger noch ich freiwillig verzichten wollten und seine Dora ihm die Augen auszukratzen drohte, wurde das Abenteuer abgebrochen.

Rüdiger studierte mit meinem Bruder zusammen Kommunikationsdesign und gehörte wie wir und Klaus zu den Stammgästen im Kanbach in Münchehagen. Am Wochenende waren wir dort zu finden und tranken Urbock (Rüdiger, mein Bruder, ich) oder auf der Tanzfläche Portwein aus Flaschen (Klaus, Dora, die Frau mit dem Glasauge, ich). In der Woche war ich meist aus proletarischen Gründen verhindert, tagsüber Arbeit bei Telefunken im Lager oder beim Gärtner in Altwarmbüchen, abends politische Termine. An diesen Tagen zog Rüdiger mit meinem Bruder durch ihre Szene: Turm, Gemütliche Ecke, Leinedomicil, Mülltonne, Maulwurf.

Im Maulwurf war ich auch einmal mit Rüdiger. Das war in der Zeit, als ich die Weltrevolution in die Ecke gefeuert hatte und wieder Ton, Steine, Scherben hören durfte. Und es ist übel ausgegangen. Wir trafen dort einen alten Kumpel von Rüdiger, der zu Hause noch „schönen Stoff“ habe, den könnten wir zusammen rauchen, er wohne auch „gleich um die Ecke“. Ich hatte schon drei Jahre nichts mehr geraucht, zögerte, zauderte. „Los, laß uns mitgehen“, Rüdiger stimmte mich um, rauchte aber am Ende selber nichts mit, was mich wohl gerettet hat. Denn als ich gerade so schön drauf und zufrieden mit der Welt war, richtete dieser Mensch plötzlich seine Schreibtischlampe voll in mein Gesicht. Redete mich mit „Sie“ an. Ich solle gestehen. Ich wußte nicht, was, und er wiederholte immer nur stur, ich solle gestehen, er zunehmend drohender im Tonfall, ich immer unsicherer. Er griff in seine Schreibtischschublade, holte einen Revolver hervor, zielte auf meinen Kopf und wiederholte seine Forderung. Wäre ich nicht bekifft gewesen, hätte ich mir gewiß vor Angst in die Hosen geschissen, aber so schaute ich nur verdutzt aus der Wäsche und begriff gar nichts mehr. Im Gegensatz zu Rüdiger, der beruhigend auf seinen Kumpel einredete und den Moment, in dem der die Waffe ein wenig senkte, ausnutzte, mich am Arm faßte und hinter sich her aus der Wohnung zerrte. So hat Rüdiger mich erst in diese Gefahr gebracht und dann daraus errettet. Bis heute weiß ich nicht, ob die Waffe echt und geladen war, und bis heute habe ich nie wieder Gras oder Shit angefaßt.

Geblieben ist nicht viel von dieser Zeit. Den Comic gab es nur in einem Exemplar und das ist wahrscheinlich von den beiden Damen entsorgt worden. Ein paar Fotos, die Rüdiger geschossen hat. Das „Schauspielerfoto“, das meine Frau aus Enttäuschung zerrissen hat, einige Bilder, in denen ich malerisch auf einem Schrottplatz herumkrieche, die Fotoserie für Rüdigers Abschlußarbeit bei Riebesehl, für die ich so ballettmäßig elegant wie möglich einen Meter über einem huckligen Acker schweben sollte – und er im richtigen Moment auf den Auslöser drücken – ein nerviger Nachmittag. Das kleine Filmprojekt, in dem Rüdiger als Weihnachtsmann verkleidet und mit einer Axt bewaffnet in einer Tannenschonung wie besinnungslos Bäume abhacken sollte, wurde dann doch nicht verwirklicht, weil den Hauptdarsteller in letzter Minute der Mut verließ.

Was machen wir, wenn der Förster kommt?

Als er mit der Fachhochschule fertig war, hat Rüdiger auch der Mut verlassen und er wollte partout nicht ins hektische Agenturleben einsteigen. Er hat Psychologie studiert und, weil es so schön war, noch eine Ausbildung in Psychoanalyse und Psychotherapie angehängt. Heute hat er mit einem anderen Freund von mir, einem Paartherapeuten, eine Gemeinschaftspraxis und Sie können sich bei ihm auf die Couch legen.

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Der kleine Herrgott

Dann kam ein neuer Ingenieur, das war’n begeisterter Fußballer, der stand jeden Fußballspiel auf’n Schloßplatz. Und wenn er dann sah, daß ich eine Verletzung hatte, dann hat er denn gesagt: „Morgen bleiben Sie zu Hause, ich spreche mit Ihrem Meister.“ Und seitdem war ich der kleine Hergott.

Meine Heimat – das Kiesgruben- und Quarzsandsoziotop an der Mittelweser – hat schon einige überragende Fußballspieler hervorgebracht: Willi Kronhardt, der aber in Wirklichkeit in Kasachstan geboren wurde, Jens Todt, Nationaltorhüter Uli Stein, der 1986 von der WM in Mexiko nach Hause geschickt wurde, weil er Franz Beckenbauer als „Suppenkasper“ bezeichnet hatte, und nicht zuletzt der Rehburger Günter Hermann, der 1990 Weltmeister wurde, ohne eine Sekunde gespielt zu haben. Aber um keinen von diesen Spielern mit internationaler Karriere haben sich solche Legenden gebildet wie um Willi E., einen gefürchteten Außenstürmer, nicht größer als Thomas Häßler, dafür stämmiger als Gerd Müller, ausgestattet mit einer mörderischen Schußkraft, von der noch fünf Jahrzehnte später geraunt wurde. Ein gegnerischer Torwart soll einen Schuß, der genau auf den Mann ging, nicht überlebt haben.

Er wurde 1912 geboren, hatte schon in der Schulzeit und während seiner Lehre als Dreher nichts als Fußball im Kopf und war stets kampfbereit, wenn es darum ging, seinen Sport gegen Angriffe von irgendwelchen Autoritäten zu verteidigen. Seine fußballerischen Leistungen und die Position seines Vaters im Betriebsrat bewahrten ihn aber stets vor Schlimmerem.

Da sah ich schon die Hand. Umdrehen. Kinnhaken. Kinnhaken. Der Meister ging zu Boden und die Gesellen kriegten sich auch in die Haare. Fußball. Da die anderen. Es wurde dann wieder geschlichtet.

Als Sohn sozialdemokratischer Eltern, war es für Willi selbstverständlich, nicht in einem Verein des „bürgerlichen“ DFB zu spielen, sondern nur innerhalb des Arbeiter-Turn- und Sportbundes, in dessen Fußballsparte 1932 137.000 Mitglieder in 4.000 Vereinen gezählt wurden. Hier brachte ihn sein Talent schnell über regionale Auswahlmannschaften bis hin zu zwei Einsätzen in der ATSB-Auswahl – die Begriffe Nationalmannschaft oder Reichsauswahl waren in Arbeitersportkreisen verpönt. Er wurden in beiden Qualifikationsspielen zur Arbeiterfußball-Europameisterschaft 1932/34 gegen Polen eingesetzt.

Wir standen wieder mal kurz vor der Meisterschaft und es waren schon immer Gerüchte laut. Der P. und der E. wollten abhauen. Hannover 96 saß dahinter. Alle waren sie sehr empört. Die Straßen wurden besetzt. Um diese Einkäufer unschädlich zu machen. Dann war der P. nochmal hier und sagte zu mir: „Willi, ich bleibe hier.“ Ich sagte: „Das wollt‘ ich auch meinen.“ Und in der Nacht haben sie dann den P. abgeholt. Nicht. In Nacht und Nebel. Husch. War er verschwunden. Und war der Verräter.

Der kleine Herrgott war zwar seit 1931 arbeitslos, weil die Glasfabrik Heye den Betrieb eingestellt und 1.000 Arbeiter auf die Straße gesetzt hatte, seine Zukunft schien aber mit einer Anstellung in der Bundesschule des ATSB in Leipzig gesichert zu sein. Doch daraus wurde nichts. Das 4:1 gegen Polen am 26. Dezember 1932 sollte Höhe- und Schlußpunkt seiner Karriere bleiben. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 27.Februar die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, die Vereine und Verbände des Arbeitersports wurden verboten, die Funktionäre in Konzentrationslagern inhaftiert und einige auch ermordet.

„Kommen Sie mal her, E. Ich weiß, Sie sind dran zur Beförderung, aber das können wir nicht machen.“ „Warum nicht?“ Immer in schöner strammer Haltung. War ganz zackig dieser. „Dann müssen Sie erst zur NSDAP-Schule.“ „Ach“, sag ich, „jetzt wirds gemütlich. Dann will man mich umformen. Nein, das kann ich nicht machen.“

Und ich trau meinen Augen nicht. Wie ich auf dies Arbeitsdienstgelände komme, da ist mein Mordsturmführer Solo-Schröder Lagerführer da. Stellt sich vor uns hin: „Aaach! Da kommen ja die roten Schweine. Aber ich werde euch schon klein kriegen.“

Die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft überstand Willi E. erst im Freiwilligen, dann im Reichsarbeitsdienst und wechselte auch fleißig die Einsatzorte, immer abhängig davon, in welcher Auswahl man ihn gerade brauchte und seinen geliebten Fußball spielen ließ. Dann bekam er Arbeit als Dreher bei der Bremer Straßenbahn, trainierte zeitweise bei Werder, spielte  aber in der Mannschaft der Straßenbahn, wurde mit einem Arbeitsplatz zurück nach Nienburg und zum Sportclub geködert. Weil er nie genug Fußball spielen konnte, lief er nebenbei immer wieder für Mannschaften auf, für die er keine Spielberechtigung hatte, und kassierte dafür eine zweijährige Sperre. Ehe die Sperre abgelaufen war, wurde er in die Wehrmacht einberufen und mußte in den Krieg ziehen.

Ging das wieder los mit Fußball. Die Kollegen kamen: „Kannst gleich wieder mitmachen. Sonnabend spielen wir Fußball. In Lemke gegen die Engländer.“ „Mach ich mit. Mach ich mit.“ „Wir besorgen dir alles. Kriegst Fußballschuhe. Alles.“ Das wurde dann auch besorgt. Und wir haben da rungewirkt. Die haben ihre Wucht gekriegt. Das kann ich Ihnen sagen. Aber immer so am Schienenbein runter, wirklich. Das ist nicht meine Art. Aber die Brutalität, die war entsetzlich. Und die nahmen – das war ja’n englischer Schiedsrichter – die nahmen das nicht so tragisch.

Nach seiner glücklichen Rückkehr aus dem Krieg konnte Willi leider nicht mehr an seine Erfolge aus den glanzvollen Zeiten vor 1933 anknüpfen. Eine langwierige Sportverletzung bedeutete dann das endgültige Ende seiner Fußballerlaufbahn. Ihm wurde eine Stelle als Schulhausmeister angeboten und der kleine Herrgott, der dank seiner Fußballkünste so ziemlich alles bekam, was er sich wünschte, verwandelte sich in einen Tyrannen, der angriffslustig keinem Zweikampf aus dem Wege ging und vor dem sich Schüler, Lehrer und Vorgesetzte gleichermaßen fürchteten.

Ich habe vier Schulleiter überl…, überdauert. Der eine wollte mich mal rausschmeißen. „Nee, das können Sie gar nicht.“ So, wie diese Schulleiter heute sind. Sie meinen, sie hätten unheimliche Gewalt. Dabei sind sie noch häßlicher wie ’ne Putzfrau. Denn mitunter, muß ich sagen, der Lehrer hat ja, die haben ja ’n Brett vorm Kopf. Die kennen nur ihre Welt. Ihre Bücher. Aber ’n Nagel in die Wand hauen. Das können sie nicht. Ja. Ja. Und dann habe ich ihm ja klar gemacht, daß ich bei ihm gar nicht beschäftigt bin.

Doch. Doch. Fußball prägt ungemein.

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Ernst-August

„Peter, Peter, Peter.“ Ernst-August gab mir seine feuchtwarme Hand, drückte schlaff zu und keuchte: „Schön, daß du mich mal hier oben besuchst.“ Dabei hätte ich keuchen müssen, denn ich war gerade die Treppen zu seinem Reich unter dem Dach des Futtermittelwerkes, in dem wir beide beschäftigt waren, hochgelaufen.

„Schön, daß du mich mal hier oben besuchst.“ Und ohne Übergang im gleichen Atemzug: „Uelzen, guck mal hier“, wobei er mit ausladender Geste auf Dutzende von Ansichtskarten wies, mit denen er Tür und Fenster seiner Dienstbutze inmitten des Betongraus bepflastert hatte, „Uelzen, Perle der Lüneburger Heide, aber du kommst zu spät“, mit Blickwendung zu den kreisrunden Löchern im Boden und dem an einem Seil befestigten Lot, mit dem er in regelmäßigen Abständen die Füllhöhe der Zellen genannten Silobehälter messen mußte, „alles erledigt, alles in Ordnung, keine Probleme.“

Ernst August, einziger Sohn des welfisch gesonnenen – „da legen sogar die Hühner gelbe Eier“ – Schlossermeisters meines Heimatdorfes sah zwar aus wie die Erstausgabe von George Clooney, aber da er sich nichts aus Frauen machte und dies erfolgreich vor sich selbst und weniger erfolgreich vor seiner Umwelt zu verbergen suchte, konnte er nie in irgendeiner Weise Kapital daraus schlagen. Als Ernst-August 13 Jahre alt war, hat ihn sein Vater mit einer Eisenstange verprügelt und ihm dabei Kopfverletzungen beigebracht, die fortan sein geistiges Vermögen stark beeinträchtigten und ihn zu jenem Original werden ließen, dem ich hier in den „Schrägen Gestalten“ an erster Stelle ein Denkmal setzen möchte.

Ernst-August und die Frauen. Als sein Vater starb, zog seine Schwester mit Mann und Kindern ins Elternhaus ein, man brauchte Platz, Ernst-August wurde das eigene Zimmer genommen, er mußte fortan bis zu seinem frühen Tod mit 60 Jahren im Ehebett neben seiner Mutter auf dem Platz seines Vaters schlafen.

Ernst-August und die Frauen: „Peter, wenn ich einmal heirate, dann muß das eine Frau sein, die Hühner rupfen kann“, vertraute er mit in der Frühstückspause an, „und die findest du heutzutage nicht mehr. Neulich war ich in Rehburg und keine von den beiden Töchtern konnte das Huhn rupfen, ich mußte das machen. Kein Wunder, daß die schon über 30 sind und immer noch keinen Mann haben.“

Ernst-August und die Frauen. Die Arbeitskollegen glaubten, man könne ihn heilen, wenn er nur einmal in seinem Leben mit einer Frau zusammen wäre. Deswegen legten sie zusammen und bugsierten ihn unter einem Vorwand in ein Bordell, wo sie ihn zu seinem geschlechtlichen Glück zwingen wollten. Der Versuch mußte abgebrochen werden, weil Ernst-August verstört vor dem Angriff auf seine Unschuld davonlief. Bezahlt werden mußte trotzdem. Von nun an verschaffte Kollege Horst ihm hin und wieder während der Arbeitszeit Erleichterung, indem er Ernst-August mit einem Handfeger zwischen den Beinen herumfuhrwerkte, bis es ihm kam. Vor diesen Attacken flüchtete Ernst-August seltsamerweise nie.

Mochte Ernst-August auch sonst ziemlich beschränkt sein, in punkto Heimatkunde konnte ihm niemand etwas vormachen. Das östliche Niedersachsen von der Weser bis an die Elbe kannte er wie seine Westentasche, besonders die Lüneburger Heide und Uelzen, weil seine Mutter daher stammte. Er hatte sich seine Kenntnisse in unzähligen Touren im buchstäblichen Sinn erfahren und war eine Art lebendes Lexikon für dieses Spezialgebiet.

Meine dörfliche Heimat mag eng sein, aber sie läßt niemanden, den sie als zugehörig zählt, verkommen. Als das Futtermittelwerk geschlossen wurde, hat man Ernst-August deshalb als Gemeindearbeiter eingestellt, obwohl man eigentlich keinen zusätzlichen brauchte. Ich habe auch bis heute nicht herausbekommen, ob die Messerei, die Ernst-August oben über den Silos veranstaltete, wirklich notwendig war. Als Gemeindearbeiter hat er jedenfalls alle Straßen, Wege, Wegränder und vor allem den Wald peinlich sauber gehalten, stets aufgeräumt, den Waldboden sogar gefegt, daß man von ihm essen konnte.

R.I.P.

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